2023 | Panorama
Tracking the Unseen. Filme als Werkzeuge des Widerstands.
Krieg, Revolution, weibliche Selbstermächtigung und queere Beziehungen - die Filme der diesjährigen Auswahl finden Bilder für die globalen Themen unserer Zeit, von zart bis explizit, von schmerzhaft bis komisch. Sektionsleiter Michael Stütz spricht im Interview über Filme, die mit ihren Bildern Leerstellen füllen und die Inspiration als Waffe.
Die Palette der Produktionsländer und Schauplätze bei euch im Programm ist breit gefächert. Filme aus zum Beispiel Nigeria, Burkina Faso, Senegal, Syrien, Jemen oder Guinea kommen sonst eher selten in europäische Kinos. Habt ihr bei der Auswahl aktiv auch auf eine solche Vielfalt geachtet oder ergibt sie sich über die Filme, die ihr unbedingt in der Auswahl haben möchtet, „von ganz allein“?
Es ist eine Mischung aus beidem. Es passiert natürlich nicht alles zufällig oder rein intuitiv. Natürlich interessieren wir uns für bestimmte Regionen, recherchieren und arbeiten eng mit unseren Delegierten aus eben diesen Regionen zusammen, um den bestmöglichen Überblick zu bekommen. Kontakte, die über die Jahre geknüpft und gestärkt worden sind, helfen dabei auch immens. Es ist sehr schön zu sehen, dass 2023 ein weiteres starkes Jahr für das junge Kino aus Sub-Sahara Afrika geworden ist. Als wir die Filme sahen, war sofort klar, dass wir sie im Programm haben müssen –also: eine Verkettung von beiden Faktoren, was besonders freut. Mit The Burdened von Amr Gamal zeigen wir einen der ersten Filme aus dem Jemen überhaupt, der auf einem internationalen Festival präsentiert wird. Wir haben den Film bereits im Rohschnitt gesehen und waren sofort so hellauf begeistert, dass wir sehr bemüht waren, den Film nach Berlin zu holen – was zum Glück geklappt hat.
Aus Nigeria gibt es den Film All the Colours of the World Are Between Black and White von Babatunde Apalowo - ein Film über eine homosexuelle Beziehung aus einem Land, in dem eben das eine Straftat darstellt. Wie verhandelt der Film das Thema?
Die engen sozialen Normen werden im Debüt von Babatunde Apalowo durch das visuelle Konzept spürbar. Der Film ist für mich eine besondere Entdeckung und es freut mich, nach 2021 (No U-Turn von Ike Nnaebue) wieder einen Film aus Nigeria im Programm zu haben. Die Kamera ist hier meist statisch und fängt fein kadrierte Bilder von Wohnung, Arbeit und der Nachbarschaft ein und vermittelt durch diese Einstellungen die soziale Enge sehr greifbar. Der so zaghaften wie sanften Annäherung der beiden Männer wird jedoch mehr Dynamik und Raum gewährt, wenn sie zusammen Streifzüge durch Lagos auf Bambinos Moped unternehmen. Untermalt von Musik sind dies meist auch zeitliche Übergänge in der Erzählung, die Hoffnung und Bewegung vermitteln. Die beiden werden zu Flaneuren und eignen sich dadurch den städtischen Raum an. Im Prinzip ein ganz klassisches filmisches Motiv, welches hier sehr schön mit Nollywood-Traditionen verwoben wird. Im Endeffekt ist All The Colors of the World Are Between Black and White auch ein Film über das sich selbst Finden, darüber, die internalisierten Schranken zu überwinden. Ein Film, der Bilder erzeugt, die eine Leerstelle füllen – im filmischen und im gesellschaftlichen Bewusstsein.
Ganz anders sieht das in Drifter von Hannes Hirsch aus. Hier wird eher ein bekanntes Klischee, das der (schwulen) Berliner Party-Szene, kritisch hinterfragt.
Hannes Hirsch verhandelt mit einer lässigen Beiläufigkeit viele Elemente, denen man in der queeren Partyszene oft begegnet. Er findet aber auch Bilder dafür, die das Potential zur Reflektion anbieten. Der Film wurde mit der Community und aus der Community heraus entwickelt und produziert. Das spürt man stark und es ist ein wichtiger Motor des Films – Klischees (und mit denen ist Berlin reichlich gesegnet) hin oder her. Drifter guckt genauer hin, entwirft Gegenpositionen zu den geläufigen Klischees, der lüsternen, ewig verführenden, glitzernden Oberfläche. Genormte und begehrte Maskulinitätsbilder oder exzessiver Drogengebrauch werden hier zart hinterfragt, ohne aber die große Moralkeule zu schwingen. Der Film zeigt den verführerischen Exzess und inszeniert ihn glaubhaft für die Leinwand. Haptisch, greif- und fassbar - vielleicht die natürlichen Feinde des Exzesses? Der Film entzaubert die Partyszene gekonnt, ist sich aber gleichsam der Schönheit dieses Zaubers bewusst. Drifter sucht die Gegensätze, beleuchtet sie, aber wertet nicht. Auf metaphysischer Ebene schafft es Hirsch den Club als körperlichen Ort zu bebildern. In gekonnt geframten Halbtotalen schafft er es, die körperliche Intensität und die Verortung im Raum einzufangen - den Exzess der Körper in der vermeintlichen Sicherheit des queeren Raums.
Das bringt mich übrigens noch zu zwei weiteren Filmen, die sich auch dem Nachtleben und vor allem dem Club als einem sozialen Ort verschreiben: After von Anthony Lapia und La Bête de la jungle von Patric Chiha. Beides französische Produktionen und zusammen mit Drifter das Club-Triptychon der Sektion. Während Drifter in der Halbtotalen den Körpern und Räumen an die Wäsche geht, schmeißt sich Lapia in After mit Handkamera und auf Film gedreht mitten in die Menge und zeigt uns oft nur noch Fragmente von Körpern. Der Raum wird noch abstrakter, man tanzt direkt mit zum pumpenden Techno. Während hier die zwei Protagonist*innen die private Afterhour bevorzugen, bleiben die beiden Hauptfiguren in La Bête de la jungle über Jahrzehnte in diesem Raum verhaftet. Chiha zieht sich, seine Kamera und die Perspektive seiner sich ewig verzehrenden Lovebirds immer mehr zurück. Der Raum wird als Ganzes sichtbar, Zeit immer abstrakter. Wir gleiten durch die Dekaden. Outfits ändern sich, der Beat ändert sich von Disco zu Techno. Die Drogen, die körperlichen Zuckungen ändern sich. Darüber die ewige Verführung, das Warten, das langsam verblassende Versprechen. Eine Elegie auf den Club, eine Feier, aber auch ein Requiem – ein sanftes zu Grabe tragen.
Kein leises zu Grabe tragen, vielmehr ein lautstarkes Abrechnen mit den jüngsten Kapiteln US-amerikanischer Geschichte scheint Hello Dankness von Soda Jerk zu sein. Auch Reality von Tina Satter könnte als eine Reaktion auf vier (lange) Jahre Trump-Administration gesehen werden. Was beiden zudem gemein zu sein scheint, ist das gleichzeitige Bauen auf Originalmaterial und das Infragestellen dessen - in dem Moment, in dem das Material der erklärte Ausgangspunkt und das Zentrum der Filme ist, wird es brüchig bzw. offen für Umdeutung - die Macht des Materials vs. die Macht der Interpretation?
Beide Filme geben mit unterschiedlichsten filmischen und dramaturgischen Mitteln ein Stimmungsbild der jüngeren US-Geschichte ab. Hello Dankness schafft es durch virtuose Montage die Narrative von etlichen Originalen zu kapern, mit tollen visuellen Effekten zu manipulieren und sie sich so anzueignen. Es ist ein wilder Ritt durch filmhistorische und popkulturelle Referenzen, ausgehend von Joe Dantes The ’Burbs (1989) mit Tom Hanks. Der US-amerikanische Vorort als Vorhof zur Hölle, als politisches Schlachtfeld der Wahl zwischen Trump und Clinton 2016, aber auch Bernie Sanders will hier noch ein Wörtchen mitreden. Das ist eine ganz klare Abrechnung mit der Amtszeit von Trump, dem politischen Establishment. Satire muss nicht unbedingt subtil sein. Sie muss knallen, amüsieren und aufs Tempo drücken. Dessen sind sich Soda Jerk bewusst und exerzieren dies mit großem Genuss bis zum Ende durch. Reality wiederum interpretiert die originalen FBI-Tonaufzeichnungen des Verhörs der Whistleblowerin Reality Winner bei ihrer Verhaftung 2017. Sie wurde unter dem Espionage Act angeklagt und 2018 zu fünf Jahren und drei Monaten Haft verurteilt, weil sie ein hochbrisantes Dokument geteilt hatte. Tina Satters Debut fußt auf den Audioprotokollen, auf Basis derer sie bereits ein Off-Broadway Stück inszeniert hat. In Reality wird die Quelle weniger angeeignet oder manipuliert, sondern neu gedeutet. Satter setzt auf eine minimalistische Inszenierung in der Mise en Scène und schafft mit den stark eingegrenzten Bewegungsmöglichkeiten ihrer Schauspieler*innen eine zunehmend klaustrophobische Stimmung. In Reality zählt jede noch so kleine Erregung: eine rote Wange, ein unsicherer Blick nach unten, ein unruhiger Bewegungsapparat der Verhörten, die großartig von Sydney Sweeney verkörpert wird.
In Stams von Bernhard Braunstein werden die jungen Protagonist*innen still und aus nächster Nähe beobachtet; in Transfariana von Joris Lachaise sehen wir selbstgedrehtes Material aus dem Knast, die Protagonist*innen sprechen teilweise direkt in die Kamera – welche Perspektiven werden im diesjährigen Programm, vor allem in den dokumentarischen Formen, eingenommen?
Stams ist für mich auch ein Portrait einer Institution – einem Ski-Internat in Tirol – und ein Film, der fast elegisch dokumentiert und verhandelt, welche Opfer von den Jugendlichen gebracht werden, wie fragil der menschliche Körper im Spitzensport ist, wie er trainiert und malträtiert wird. Darüber hinaus ist er mit großartiger Präzision und tollem Handwerk umgesetzt. Des Sounddesigns alleine wegen muss man den Film im Kino gesehen haben! Transfariana ist eine faszinierende Langzeitbeobachtung, die uns Einblick in einen Teil der FARC gewährt, der bisher außerhalb der Gemeinschaft noch nicht wahrgenommen und diskutiert wurde. Die Protagonist*innen dokumentieren sich und ihre Geschichten, die engstens verwoben ist mit der jüngeren politischen Geschichte des Landes, selbst. Durch den Schnitt und auch die Positionierung der Kamera wird dieser Film für die Zuschauenden zu einer intensiven Erfahrung und hat für mich eine fast hypnotische Anziehung. Darüber hinaus ist der Film ein Dokument queerer Selbstbestimmung von Trans*Aktivistinnen und Sexarbeiterinnen.
Ob in Iron Butterflies von Roman Liubyi, La Sirène von Sepideh Farsi oder Ghaath von Chhatrapal Ninawe: Krieg und Revolution sind sehr präsent in der diesjährigen Auswahl. Was unterscheidet und was eint die Filme?
Für mich finden diese unterschiedlichen Filme einen gemeinsamen Nenner: sie lassen Bilder entstehen und füllen Leerstellen im filmischen und gesellschaftlichen Bewusstsein. Iron Butterflies versucht mit Hilfe von Grafiken, Landkarten und Animationen mit einem sehr analytischen und forensischen Blick die Tragödie und Tragweite des Abschusses der Passagiermaschine MH-17 durch das russische Militär über der Ostukraine zu beleuchten. Liyubis Film erinnert streckenweise an die hervorragenden Recherchen und Untersuchungen von Forensic Architecture, findet aber auf anderen Ebenen das nötige humanistische Gespür für die Tragik des russischen Angriffskriegs seit 2014. La Sirène von Sepideh Farsi, einer im französischen Exil lebenden Iranerin, zeigt in der mitreißenden Animation die Wirren des ersten Irak-Iran Krieges zwischen 1980 und 1988. Farsi blickt in die Vergangenheit zurück und zeichnet dabei auch ein Bild eines neu entstehenden Regimes, welches diesen Krieg bis ins Heute für seine systematische Unterdrückung des Volkes nutzt. Auch Ghaath findet Bilder, um den seit Jahrzehnten zwischen der indischen Zentralregierung und maoistischen Guerillas wütenden Bürgerkrieg sichtbar zu machen, die es in dieser Offen- und Direktheit im indischen Kino so noch nicht gegeben hat. In The Burdened von Amr Gamal wird der andauernde Bürgerkrieg im Jemen eher im Hintergrund und beiläufig in die Geschichte integriert. Eine ungewollte Schwangerschaft bringt die Eheleute in die Bredouille und zeigt den ökonomischen Druck, der plötzlich auf der sogenannten Mittelschicht lastet. Verknappte Ressourcen und soziale Engmaschigkeit sind die Konsequenzen des andauernden Bürgerkriegs im Land. Alle diese Filme beschäftigen sich mit systematischer und struktureller Gewalt und artikulieren mit ihren Bildern und Inszenierungen eine Opposition, eine Gegenposition. Als Werkzeug und Waffen dienen Equipment und Geist. Es sind aber nicht nur inhaltliche Statements, sondern auch genauso starke ästhetische Überlegungen und Umsetzungen der Inhalte. Bei genauer Betrachtung der Filme und ihrer Macher*innen werden einem die globale Tragweite und Intersektionalität schmerzhaft bewusst.
Under the Sky of Damaskus von Heba Khaled, Talal Derki und Ali Wajeeh, Sira von Apolline Traoré, Green Night von Han Shuai, Martín Benchimols El Castillo oder Matria von Álvaro Gago, um nur einige zu nennen: Euer Programm ist voller weiblicher Emanzipationsgeschichten und sich empowernder Frauenfiguren. Könnt ihr ein bisschen über die unterschiedlichen feministischen Ansätze in den Filmen erzählen?
Feministische Perspektiven und Themen sind ein wichtiger Bestandteil der Sektion, immer schon gewesen. Under the Sky of Damaskus blickt auch auf ein vom Krieg zerstörtes Land, nicht nur materiell, sondern eben auch geistig und humanistisch, aus einer dezidiert feministischen Position. Hier werden die Traumata von sexueller und körperlicher Gewalt gegen Frauen erkannt, benannt und reflektiert. Nichts ist gesellschaftlich real, bis es ausgesprochen ist. Das wird hier auf den Punkt gebracht. Selbstbestimmung wird durch den Versuch der Verarbeitung, des Aussprechens innerhalb eines Theaterworkshops versucht. Der Film zeigt schmerzhaft, wie oft Misogynie von Frauen selbst internalisiert worden ist. Mit diesen verinnerlichten Macht- und Gesellschaftsstrukturen beschäftigen sich viele Frauenfiguren und Regisseur*innen. Der Widerstand wird, zwar manchmal im Kleinen und im Privaten, dafür aber umso lauter ausgetragen, etwa in Matria. In Green Night geht es mit Genre-Elementen in die Unterwelt Seouls, wo Fan Bingbing und Joo Young Lee in die großen Fußstapfen von Thelma & Louise treten und sich unnützer Schmarotzer und Ausbeuter entledigen. Apolline Traoré hat mit Sira einen feministischen Revenge-Western in der Sahelzone gedreht, mit einem für mich ikonischen Ende, das man nicht verpassen sollte.
Ein Film, der in diesem Kontext besonderes Augenmerk verdient, ist Perpetrator von Jennifer Reeder. Gespickt mit unzähligen Referenzen auf Genreklassiker, entwickelt Reeder jedoch auch eine unglaublich eigene Filmsprache. Die dichte, mysteriöse Atmosphäre ist dabei von mindestens genauso großer Bedeutung wie die Narration. Verwoben werden hier zudem alte Mythen und aktuelle Diskurse. Hat Jennifer Reeder vielleicht den feministischen Film unserer Zeit erschaffen?
Der Ansatz gefällt mir sehr gut, ich empfand das bei der Sichtung ebenso und war ohnehin bereits Fan von Reeder und meine hohen Erwartungen wurden mehr als erfüllt. Perpetrator ist ein Film der gerne zitiert, aber nie zum Zitierwerk wird. Jennifer Reeder kreiert ihr eigenes Oeuvre, nimmt sich Freiheiten die sich nur weniger Regisseur*innen herausnehmen. Sie weiß dabei genau was sie zeigen muss und was nicht, um ihre Publikum zu empowern. Alte Sichtweisen auf Genre, Horror, Feminismus, Coming of Age und Queer Cinema werden erst mal gleich durch den Mixer gejagt und neu positioniert. Das macht einen höllischen Spaß und strotz nur so von Haltung und Selbstbewusstsein.
Zu guter Letzt: gibt es denn Arbeiten, von denen ihr meint, sie könnten besonders kontrovers gesehen werden?
Spontan würde ich sagen Passages von Ira Sachs hat durchaus das Potential zu provozieren und das Publikum zu spalten. Es werden nicht die Fetzen fliegen, aber die Zuschauer*innen werden definitiv auf den Prüfstand gestellt, wie sehr sie eine Identifikationsfigur oder Sympathieträger*in brauchen. Franz Rogowskis mega-narzisstischer Charakter als Regisseur Tomas provoziert. Ein bisexueller Hengst, gekleidet in durchsichtige Crop-Tops und Leopardenprints. Es kommen ein wenig Fassbinder-Vibes auf, auch, wenn Tomas eher kindlich-ignorant wirkt und weniger bösartig-sadistisch. Die so oft beleuchtete europäische Ménage-à-trois, hier durch die amerikanische Linse eingefangen, gleicht eher einer Dystopie als Utopie. Ira Sachs ist bereits zum sechsten Mal Gast im Panorama und mit Passages nähert er sich seinen früheren Filmen wieder an: schmerzhaften aber magnetischen Beziehungsanalysen, mit der dazugehörigen Portion Sex.