2023 | Generation
Zu tun gibt’s genug!
Sektionsleiter Sebastian Markt und Sektionsmanagerin Melika Gothe sprechen im Interview über ihr erstes gemeinsames Jahr in ihren neuen Positionen und darüber, wie wichtig es ist, nicht nur die Arbeit, sondern auch die persönlichen Filmerfahrungen zu teilen – und warum sie sich sehr über die festivalübergreifende Thematik der diesjährigen Retrospektive „Young at Heart – Coming of Age at the Movies“ freuen.
Dieses Jahr findet die erste Edition mit euch als neuer Leitung statt: Was ändert sich? Welche Idee steckt hinter der neuen Sektions-Struktur und wie schlägt sie sich nieder?
Sebastian Markt: Melika und ich haben aus unseren unterschiedlichen Bereichen heraus in den letzten Jahren sehr eng zusammengearbeitet. Als sich die große Chance ergeben hat, in Nachfolge von Maryanne Redpath die Verantwortung für die Sektion in geteilten Rollen zu übernehmen, hat sich das für uns wie die logische Konsequenz angefühlt. Als Sektionsleiter bin ich zusammen mit Carlo Chatrian in erster Linie für den kuratorischen Teil verantwortlich. Melika ist Sektionsmanagerin. Neben den administrativen Aufgaben ist in ihrer Arbeit vor allem der Bereich der Filmvermittlung zentral.
Melika Gothe: Filmvermittlung, so wie wir sie verstehen, war schon immer ein wesentlicher Teil der Sektion, nämlich Zugänge für junges Publikum inmitten des Festivalgeschehens zu schaffen. Besonders wichtig ist uns dabei, dass die Zielgruppenansprache nicht exklusiv ist. Generation hat sich in den letzten Jahren zu einer einzigartigen Festivalplattform entwickelt, die Branchenvertreter*innen, erwachsenes Publikum und junge Menschen gleichermaßen anspricht. Filmvermittlung zu stärken bedeutet für uns unter anderem, diese Gruppen noch stärker zusammenzubringen.
Wir beobachten auch eine große Lebendigkeit im Bereich der Filmvermittlung, die längst nicht mehr nur von film- und medienpädagogischen Akteur*innen ausgeht, sondern auch in der Produktion, Auswertung und Präsentation mitgedacht wird. Hier möchten wir uns aktiv einbringen, auch über den reinen Festivalzeitraum hinaus. Die Entscheidung, mit dem Leitungswechsel Filmvermittlung bewusst als Handlungsfeld des Festivals zu benennen, sehe ich als wichtiges Signal, Filmkultur auch auf diese Weise zu fördern und weiterzuentwickeln.
SM: Wir verstehen Vermittlung also in einem breiten Sinn, der sehr eng mit dem Programmatischen verbunden ist. Umgekehrt heißt das praktisch, dass wir beide unsere Bereiche haben, die wir aber nicht losgelöst voneinander denken. Abgesehen von dem offensichtlichen Vorteil, dass wir uns dabei in unseren Erfahrungen und Kompetenzen ergänzen, macht es auch einfach mehr Freude kollaborativ zu arbeiten und gemeinsam zu denken.
Wenn wir einen Blick in das diesjährige Programm werfen, zeigt sich, dass neben Autonomie und Freiheit in vielen Arbeiten auch deren Gegenstücke, Beziehung(en) und Gemeinschaft, verhandelt werden. In Le Paradis (The Lost Boys) von Zeno Graton etwa bildet sich Gemeinschaft im Gefängnisalltag. In L'Amour du monde (Longing for the World) von Jenna Hasse besteht die Gemeinschaft aus einer Art selbst gewählter Familie. In Sofía Auzas Adolfo finden sich zwei Jugendliche sozusagen in einer Schicksalsgemeinschaft für eine Nacht. Wo und wie finden die jugendlichen Protagonist*innen Halt und Geborgenheit in den Filmen der Auswahl?
MG: Beziehung(en) und Gemeinschaft stehen in den Filmen nicht unbedingt im Gegensatz zu Autonomie und Freiheit. Aber es ist sicher wahr, dass sich manche Beziehungen im Widerspruch zu der eigenen Freiheit befinden. Selbst gewählte Gemeinschaften schaffen dann wiederum Freiräume, die den Protagonist*innen andere Versionen von sich selbst ermöglichen, wie beispielsweise in L’Amour du monde.
SM: Generell kann man sagen, dass die Frage nach dem eigenen Platz in der Welt, nach Verhältnissen, die mensch zu anderen, aber auch sich selbst, einnimmt, eine ist, die im Coming-of-Age-Kino – oder überhaupt in Filmen, die sich der Perspektive junger Protagonist*innen widmen – viel Raum einnimmt. Dementsprechend vielgestaltig sind die Antworten oder Motive, die sich dahingehend im Programm finden. Einige Filme greifen das auch explizit als Reflexion auf.
In einer sehr unmittelbaren Form sucht im Kurzessay To Write From Memory von Emory Chao Johnson ein*e jung*e trans Regisseur*in nach einem adäquaten Bild des eigenen Selbst während bzw. nach der Transition, für sich selbst. Gleichzeitig passiert das aber nicht im luftleeren Raum, sondern exemplarisch hier im Verhältnis zur eigenen Mutter. Sweet As von Jub Clerc erzählt von einer jungen indigenen Frau, die in ein Fotografie-orientiertes erlebnispädagogisches Projekt gesteckt wird, und sich dort - gewissermaßen durch den Sucher der Kamera - einen neuen Blick auf ihre Umgebung, auf das Land ihrer Ahnen, und auf sich selbst verschafft.
Bei Desperté con un sueño (Auch wenn ich nicht viel sage) von Pablo Solarz ist es wiederum das Theater. Auf einer Bühne zu stehen, eine Rolle gegenüber jemand anderem einzunehmen, steht einem jungen angehenden Schauspieler leitmotivisch auf seiner Suche nach der verschütteten Familiengeschichte zur Seite.
In Míng tian bi zuo tian chang jiu (Tomorrow Is a Long Time) von Jow Zhi Wei und Darvazeye royaha (Dreams’ Gate) von Negin Ahmadi schafft jeweils ein militärisches Umfeld eine Form von Gemeinschaft und (Zusammen-)Halt, was eine seltsame Botschaft scheint in Zeiten, in denen Krieg und kriegerische Handlungen so präsent sind. Wie wird dieses Thema in den Filmen umgedeutet oder in anders dargestellt?
SM: Ich glaube nicht, dass das die Botschaft der Filme ist, denn das Militärische des Umfelds ist in beiden Filmen durchaus komplex und vor allem auch ambivalent. Begegnungen mit Militärischem, sei es durch Krieg, mittelbar und unmittelbar, sind nun mal leider Teil der Lebensrealität vieler junger Menschen und das Kino reflektiert das auch. Keinem der beiden genannten Filme könnte man den Vorwurf machen, dass sie das Glorifizieren.
In Míng tian bi zuo tian chang jiu findet sich die Hauptfigur nach einem traumatischen biografischen Bruch in einem völlig veränderten Umfeld wieder. Der Film erzählt das auch als radikalen ästhetischen Bruch, als eine veränderte Wahrnehmung von Raum und Zeit, und der Art und Weise, wie Kontakt zu anderen funktioniert. Der Kontext der Armee ist dabei eher zweitrangig und es ist wenig von dem spürbar, was sonst eine Armee ausmachen würde: Hierarchie und Disziplin. Das Militärische der kriegerischen Auseinandersetzungen ist definitiv ein Teil dessen, was Darvazeye royaha erzählt. Zugleich ist der Film aber auch voller zärtlicher Beobachtungen einer spezifischen Form von Kamerad*innenschaft, die die oft sehr jungen Frauen in der kurdischen Miliz finden und die gerade nicht aus den Kampfhandlungen kommt. Darin schafft der Film auch ein dezidiertes Gegenbild zu einer männlich geprägten Kriegsikonografie.
Darvazeye royaha zeigt extrem heftiges Material aus dem permanent kriegerischen Angriffen ausgesetzten Kurdistan, teilweise ohne wirkliche Vorwarnung - wie kann dies gerade einem noch jungen Publikum „zugemutet“ werden?
SM: Es stimmt, dass der Film Szenen beinhaltet, die die Grausamkeit der Kriegssituation deutlich erkennen lassen. Das ist einer der Gründe, warum wir den Film mit einer Altersempfehlung ab 16 Jahren zeigen. Welchen Bildern man sich aussetzen möchte beziehungsweise kann, ist unabhängig vom Alter auch eine individuelle Frage, weswegen wir versuchen, in den Programmtexten deutlich zu machen, was eine*n jeweils erwartet. In diesem Fall denken wir, dass der Film einen verantwortungsvollen Umgang mit seinen Bildern findet und eine Chance zur Verarbeitung von etwas bietet, das die Gegenwart schlechterdings auch prägt. Grundsätzlich und gerade bei den herausfordernden Themen gilt, dass wir nach einem Programm suchen, das bestärkt, und nicht verunsichert oder gar traumatisiert.
Wie wägt ihr ab, was wichtige Aufklärungs- und Bildungsarbeit ist und ab welchem Punkt die Filme überfordern oder im schlimmsten Falle (re)traumatisieren können? Und gibt es vorab Einführungen in die Filme? Wieviel kann über ein anschließendes Filmgespräch aufgefangen werden?
MG: Wesentlich ist bei dieser Frage, die Einbettung des jeweiligen Films in den spezifischen Festivalkontext mit zu berücksichtigen. Dies beginnt eben bereits mit der Programmankündigung - wie beschreibe ich den Film, wie sehr bin ich mir meines Publikums bewusst? Für wen und ab welchem Alter empfehle ich den Film? Darüber hinaus spielt es auch eine Rolle, den Film zusammen mit anderen im Kino - und das sage ich ganz bewusst: zu erleben. Selbst, wenn alle schweigend den Saal verlassen, bildet dies einen Resonanzraum. Die Filmgespräche, die wir nach vielen der Vorführungen anbieten können, bilden natürlich ein Herzstück der Festivalerfahrung: sie schaffen Nähe zu den Filmemacher*innen und können durch den gemeinsamen Austausch helfen, Gefühlen und Gedanken einen Ausdruck zu geben. Ich würde also weniger von Bildung durch „Aufklärungsarbeit” sprechen, als vielmehr durch Erfahrung und Debatte.
SM: Die Frage der Angemessenheit ist eine, die uns im Auswahlprozess auch durchgehend beschäftigt und in den Diskussionen mit unserem Auswahlgremium, dem Leute mit ganz verschiedenen Hintergründen angehören, viel Raum einnimmt. Das bedeutet natürlich auch, dass es jedes Jahr Filme gibt, die wir in vielerlei Hinsicht toll finden, aber nicht ins Programm aufnehmen, weil wir denken, dass sie gewisse Grenzen überschreiten, die einzuhalten uns wichtig ist. Ein essenzielles Moment in der Entscheidungsfindung ist, ob wir denken, dass ein Film - in dem, was er erzählt und in der Sprache, die er dafür findet, - gewissermaßen das Werkzeug mitliefert, das es einem jungen Publikum erlaubt, das Gesehene zu verarbeiten und einzuordnen.
Darvazeye royaha, um darauf zurückzukommen, ist definitiv kein Film, der auf eine spektakuläre, ausschlachtende Schockwirkung setzt, sondern der eher einen nachdenklichen, reflexiven Zugang hat und immer wieder die Fragen stellt: Welche Bilder machen wir uns vom Krieg? Was können wir auf einer Ebene von Bildern über Krieg in Erfahrung bringen? Und was nicht? Was macht er mit den Menschen deren Leben er berührt? Das finden wir wichtig in einem Moment, in dem Kriegsbilder auch im Alltag junger Menschen allgegenwärtig sind.
In anderen, kurzen Formaten geht es eher um den Tumult im Inneren: Antes de Madrid (Before Madrid) von Ilén Juambeltz und Nicolás Botana und Ella Roccas Crushed , einmal fiktional, einmal sehr autobiografisch-dokumentaristisch, erkunden das Gefühl eines jungen Begehrens...
SM: Ja, Fragen von Anziehung und Begehren und was das mit einem*einer selbst anstellt, was jemanden mit anderen verbindet und welche Form von Beziehungen wir uns wünschen, sind ein wichtiges Motiv in einem Kino, das sich mit dem Heranwachsen beschäftigt. Mit Tumult im Inneren könnte man auch einen guten Teil des Programms apostrophieren. Schön finden wir, dass das Programm hier auch ein weites Feld umkreist. Das reicht von den beiden 14plus-Beiträgen, die genannt wurden, und die ein Begehren im engeren Sinn beschreiben, bis zu Filmen, die die Frage nach der emotionalen Verbundenheit auf andere Weise stellen: Geschwisterbeziehungen zum Beispiel bei Entre deux Sœurs (Unter Schwestern) von Anne-Sophie Gousset und Clément Céard. Oder, um ein anderes Register aufzugreifen: Wut, wofür die zwei Kplus-Filme, Sværddrage (Umbruch) von Amalie Maria Nielsen und Magma von Luca Meisters jeweils ganz eigene Filmsprachen finden.
Mehrere Filme behandeln das Thema Tod (Sea Sparkle von Domien Huyghe, Sica von Carla Subirana, Dede is Dead von Philippe Kastner, Nanitic von Carol Nguyen). Welche unterschiedlichen Wege und Ausdrucksmöglichkeiten finden die Filme, mit diesem Thema umzugehen? Gibt es dabei unterschiedliche Vorgehen, bezogen auf die Subprogramme Kplus und 14plus?
MG: Das stimmt. Letztes Jahr hatten wir bemerkenswerte viele tote Eltern, dieses Jahr kommen noch sterbende Großmütter und Haustiere hinzu. Die Filme, die im diesjährigen Programm von Tod erzählen, spannen in der Gesamtheit betrachtet den Bogen von dem Moment, in dem die jungen Protagonist*innen sich gewahr werden, dass sich etwas verändert hat (A Greyhound of a Girl von Enzo d’Alò), über den Moment der Pflege einer Angehörigen (Nanitic) bis zum Umgang mit dem wahrhaftigen Tod, der für immer währenden Abwesenheit eines geliebten Menschen (Sea Sparkle, Sica) und der Verarbeitung des Verlusts (Dede Is Dead, Desperté con un sueño, Adolfo).
Die Filme machen deutlich, dass Abschiednehmen und Trauer ganz individuelle Prozesse sind, die mit verschiedenen Gefühlen zum Ausdruck gebracht werden können und vor allem auch auf verschiedene Art und Weise wahrgenommen werden, wie etwa in Nanitic: Für Trang ist der Tod der Oma etwas Neues. Anders als für die Erwachsenen, gibt es für sie noch keine Konzepte, Erfahrungen, Wunden, auf die sie zurückgeworfen wird. Umso mehr scheint sie wahrnehmen zu können, was passiert: innerhalb der Familie, mit den Sterbenden, sogar mit der Zeit um sie herum.
SM: Die Grenze zwischen den Kplus und 14plus Wettbewerben ist keine harte, sondern eine mit Übergängen; Filme, die wir in Kplus ab fünf Jahren empfehlen sind sehr anders als solche, die wir im selben Wettbewerb ab zwölf empfehlen. Generell kann man sagen, dass Filme in 14plus einen anderen Umgang mit Ambivalenzen, mit dem Austragen von Widersprüchen haben, und eine andere Komplexität in der Formensprache. Und auf der Seite von Perspektiven und Erfahrungen von einem anderen Punkt ausgehen.
Das Thema des Aufwachsens und Erwachsenwerdens ist natürlich allgegenwärtig bei Generation, aber diesmal scheint sich die Sektion auch mit dem „Erwachsenwerden“ des Films selbst in And the King Said, What a Fantastic Machine zu befassen. Wie reiht sich dieser Film von Axel Danielson und Maximilien Van Aertryck in die Sektion und ihre Ausrichtung ein? Und in welcher Lebensphase befindet sich das bewegte Bild heute (in der Logik des Films gesprochen)?
MG: Das ist eine interessante Parallele. Coming-of-Age-Filme werden viel zu häufig auf das Erwachsenwerden reduziert, als sei das ein Prozess, der sich in einer bestimmten Struktur abschließen lässt. Unser Programm zeigt wieder einmal, dass dieser Prozess verschiedene Phasen durchläuft, Umwege nimmt und vor allem aber auch, dass Kindheit und Jugend für sich stehende Wirklichkeiten sind, die in sich betrachtet unglaublich viel zu erzählen haben. Auf And the King Said, What a Fantastic Machine bezogen, könnte man sagen, dass die Geschichte des Films, ebenso wie Kindheit und Jugend, keinen linearen Entwicklungsprozess darstellt, sondern stets im Zusammenspiel mit Gesellschaft entsteht.
SM: Was uns an And the King Said, What a Fantastic Machine auch begeistert hat, ist, dass er eine oft gestellt Frage - die Allgegenwart von Bild-zentrierten Sozialen Medien - in einen ungewohnt weiten Kontext stellt: den der Geschichte fotografischer Medien und des Kinos selbst und der Kultur, die sie schaffen. Das kreiert innerhalb des Programms auch einen reflexiven Raum, der auf die anderen Filme ausstrahlt. Zu diesem reflexiven Moment würde ich auch noch Ramona von Victoria Linares Villegas zählen. Eine Schauspielerin, die ein schwangere Jugendliche spielen soll, spricht aus Recherchezwecken mit tatsächlich schwangeren Jugendlichen, diese übernehmen mehr und mehr die Bühne. Der Film wird damit auch zu einer eindringlichen Selbstbefragung über eine Ethik der Repräsentation: Was bedeutet es, für andere sprechen zu wollen? Wo liegen die Grenzen dessen, sich jemandes Stimme anzueignen?
Die Ansätze der Arbeiten sind breit gefächert: Welcher Film hat euch am nachdenklichsten gestimmt? Welchen seht ihr als „Wohlfühlfilm“? Bei welchem habt ihr am meisten gelacht, bei welchem vielleicht weinen müssen?
MG: Mir fällt sofort Sica ein. Der Film hatte kaum begonnen, ich wusste noch gar nicht wirklich, wo wir uns befinden und was passiert, aber die Art und Weise, wie die Protagonistin Thais García Blanco aufs Meer schaut, alles was in ihrem Blick liegt, hat mich im wahrsten Sinne des Wortes getroffen. Im Kino zu weinen gehört für mich zur Gesamterfahrung: Gefühle werden auf einen Punkt gebracht oder ganz einfach in Bildern festgehalten. Oder es gelingt dem Film, mir etwas zu vermitteln, das mir bislang fremd oder unbekannt war. Bei Coming-of-Age-Filmen finde ich das besonders stark, weil diese Erfahrung manchmal Gefühle sortiert, die in der eigenen Jugend keinen Ausdruck finden konnten oder bei denen mir erst jetzt bewusst wird, wie bedeutend sie waren. Ein anderes gutes Beispiel ist unser Kplus-Eröffnungsfilm Zeevonk, der - genau wie Sica - eigentlich von einem traurigen Ereignis erzählt. Aber was mich hier so sehr berührt hat, war die Wut, die die Hauptfigur Lena in dem Film erfahren und ausleben darf. Wütende Mädchen erlebt man - noch - viel zu selten und ich habe den Film als unfassbar bestärkend wahrgenommen. Häufig schreibe ich Sebastian dann eine Nachricht, die im Grunde sagt: „Ich habe gerade etwas Großes erlebt, das ich mit dir teilen möchte.”
Das macht übrigens genauso viel Spaß, wie Sebastians Lachen durch die Tür des Sichtungsraums zu hören.
SM: (lacht). Das Teilen und gemeinsame Durchleben von Emotionen als wichtiger Teil der Kinoerfahrung fängt bei uns schon vor Festivalstart an. Lachen ist dabei ein gutes Stichwort. Die Fragen haben sich bisher oft auf die schwierigen Themen bezogen. Das Programm ist aber tatsächlich auch in seinen emotionalen Stimmungen sehr facettenreich und hat viel Lustiges und Hoffnungsvolles. Das fängt mit dem Eröffnungsfilm Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war von Sonja Heiss an, der sehr vielschichtig ist in seiner Tonlage, aber eben auch hinreißend komisch. Aatmapamphlet (Autobio-Pamphlet) von Ashish Avinash Bende ist eigentlich eine kindliche Romantic Comedy, die nebenbei in virtuosem Tempo und visuellem Einfallsreichtum indische Geschichte der letzten Jahre erzählt und sich satirisch am Nationalismus abarbeitet. Hummingbirds von Silvia Del Carmen Castaños und Estefanía “Beba” Contreras, um noch ein weiteres Beispiel zu nennen, ist ein dokumentarisches Selbstportrait zweier junger Latinx Regisseur*innen, die auf verschiedenen Seiten der US-Mexikanischen Grenze aufgewachsen sind, und damit auch ein wundervolles Portrait einer Freund*innenschaft im Widerstand gegen die Widrigkeiten der Welt.
Coming-of-Age steht thematisch über diesem Festival, die Retrospektive läuft dieses Jahr gänzlich unter diesem Banner. Für euch ein alter Hut?
MG: Vor allem freut uns, dass auch das diesjährige Retro-Programm zeigt, wie vielseitig dem Thema „Erwachsenwerden“ im Film, durch die ganzen repräsentierten Filmkulturen und Jahrzehnte hindurch, begegnet werden kann und dass die Filme, an die die Kurator*innen gedacht haben, weit über die im Diskurs dann doch häufig sehr enge Definition oder vielmehr Vorstellung von Coming-of-Age-Kino hinausgehen.
SM: Durch den Blick in die Filmgeschichte und die explizit gestellte Frage nach Coming-of-Age als einer spezifischen Form entspinnt sich für uns ein interessanter Dialog, der sich hoffentlich so auch für das Publikum fortsetzt. Nicht alles was wir im Kontext von Generation interessant finden, ist ein Coming-of-Age-Film, andererseits lässt sich an der Geschichte des Coming-of-Age-Kinos auch etwas über gesellschaftliche Umbrüche ablesen.
Mutt von Vuk Lungulov-Klotz zum Beispiel, der einen Tag und eine Nacht im Leben eines jungen trans Manns erzählt, hätte man in dieser Form, als Werk eines Regisseurs, der selbst trans ist und gespielt von eine*r trans Schauspieler*in, vor wenigen Jahren noch lange suchen müssen. Man kann ihn sicher als Coming-of-Age-Film lesen, der gleichzeitig klarmacht, dass die klassische Form von Coming-of-Age-Filmen auf Voraussetzungen aufbaut, die nicht für alle gleichermaßen gelten.
MG: Ich finde es immer interessant zu sehen, wann die Perspektiven junger Menschen als Bereicherung wahrgenommen werden und wann sie eher hintenangestellt werden. Es scheint mir manchmal so, als ob, sobald auch das junge Publikum ins Spiel kommt, sich etwas verändert. Umso toller ist es, dass das Retro-Programm und Generation dieses Jahr so viele Verbindungen schaffen - Dialog zwischen filmischen Traditionen und Generationen sowie auch verschiedenen Publikumssegmenten.
Generation geht dieses Jahr in die 46. Ausgabe. Wie schaut ihr zurück auf über vier Jahrzehnte Kino für das jüngere und jung gebliebene Publikum und was wünscht ihr euch für die Zukunft?
MG: Ich schaue nach wie vor mit einem neugierigen Blick zurück und würde mich weiterhin als Lernende bezeichnen. Unser Anspruch, die Sektion weiterzuentwickeln, geht auch damit einher, zu verstehen und wertzuschätzen, was bislang passiert ist. Dazu hat unsere enge, gemeinsame Zusammenarbeit mit der vorherigen Sektionsleiterin Maryanne Redpath in den letzten Jahren einiges beigetragen. Aber auch der Austausch mit Kolleg*innen, die schon seit den frühen Jahren Teil der Sektion sind.
Für die Zukunft wünsche ich mir auf jeden Fall, dass wir uns immer wieder den Raum schaffen, neu zu denken, wie Programm gestaltet werden kann. Und ich wünsche mir, dass junges Publikum und Filme für junges Publikum schon auf den ersten Blick die Begeisterung und das Interesse auslösen, die ihnen häufig auf den zweiten Blick dann ohnehin zuteilwerden.
SM: In einer Situation, in der das Kino mitten in einem Umbruch steckt, ist das eine zentrale Aufgabe, die nicht neu ist, aber sich immer wieder neu stellt: Was können wir, als Festival und als Sektion, dafür tun, an einer Filmkultur mitzuarbeiten, die eine nachhaltige Zukunft ermöglicht und junge Menschen nicht nur als Nische und Marketingzielgruppe, sondern als zentrale Akteur*innen mitdenkt. Es rührt auch an ein Grundmotiv unserer Arbeit, im Persönlichen, aber vor allem auch im Sinne dessen, was wir bei Generation erreichen wollen: Begeisterung weiterzutragen für ganz spezifische Filme, aber auch für das Kino allgemein. Zu tun gibt’s genug!