2023 | Berlinale Talents
Humour in Serious Times
Auch Berlinale Talents sind nach zwei pandemiebedingten Online-Ausgaben zurück in Präsenz. Die Leiter*innen der Talentförderinitiative, Florian Weghorn und Christine Tröstrum, im Interview über eine wachsende engagierte und kreative Community, die sich wie eine Familie anfühlt, die Vielfalt filmischer Gewerke und wie Humor auch in schwierigen Zeiten eine Chance sein kann.
Ihr habt Talente aus über 60 Ländern eingeladen, die dieses Jahr endlich wieder in Person teilnehmen können. Wer kommt alles nach Berlin?
Florian Weghorn: Die 204 Talente wurden aus 3.295 Bewerbungen und 125 Ländern ausgewählt. Viele haben bereits bei namhaften Projekten mitgewirkt oder sie gar selbst initiiert. So waren beispielsweise mehr als 40 von ihnen an früheren Berlinale-Filmen als Regisseur*innen oder in anderen Gewerken beteiligt.
Christine Tröstrum: Sie alle eint ihr Wille, in ihrem Lebens- und Arbeitsumfeld etwas zu bewirken – sei es künstlerisch oder gesellschaftspolitisch. So auch die ukrainische Regisseurin Christina Tynkevych, die sich in ihrem Spielfilmdebüt How is Katia? mit den sozialen Machtverhältnissen in der Ukraine auseinandersetzt; oder Anna Melikova, die Drehbuchautorin von Isabelle Stevers Film Grand Jeté, der 2022 in der Sektion Panorama lief. Sie sind dieses Jahr zwei von insgesamt sechs Talenten mit ukrainischer Staatsbürgerschaft.
FW: Unter den Talenten befinden sich auch vier iranische Regisseur*innen, die zum Teil mit ihren Projekten zusätzlich in die Talents Labs eingeladen sind. Gerade dieses Jahr versuchen wir noch einmal besonders, die freie Entfaltung von Kunst zu unterstützen. Das gilt ebenso für Länder wie Afghanistan und Myanmar, um nur eine Auswahl zu nennen.
CT: Was die Gruppe darüber hinaus auszeichnet, ist die Gewerkevielfalt: Unter den Vertreter*innen aus derweil 14 Filmdisziplinen trifft man auf die türkische Digital-Set-Designerin Melis Aksoy, die kürzlich an Guillermo Del Toros Cabinet of Curiosities mitgearbeitet hat. Pedro Harres ist ein in Porto Alegre geborener und in Berlin lebender Regisseur und Multimedia-Künstler; sein Virtual-Reality-Projekt From the Main Square wurde letztes Jahr mit dem Hauptpreis bei den Internationalen Filmfestspielen von Venedig ausgezeichnet.
Berlinale Talents widmet sich dem Humor, dabei sind unsere aktuellen Zeiten oft gar nicht lustig. Ein Widerspruch?
FW: Oder eine Chance. Wir müssen uns ja diesen sehr realen Sorgen und vor allem unseren dahinter verborgenen Ängsten stellen. Krieg und Krise sind niemals witzig, Punktum. Es geht auch nicht darum, sich den klaren Blick auf die Realitäten wegzulachen. Aber der Mensch – und mit ihm die Filmkunst – kennt Wege, einer Krise auch andere, positive Kräfte entgegenzustellen. Humor kommt aus dem Bauch, ist aber eigentlich Kopfsache. Du musst eine Situation blitzschnell analysieren, um dir die Absurdität darin zu erkennen. Zugespitzt wird daraus ein gutes Gegengift in Wort und Bild, auch mal ein heftiger Knuff unter die Gürtellinie oder einfach Erleichterung für einen Moment…
Diese Balance zwischen Spaß und Ernsthaftigkeit ist sicher nicht leicht zu schaffen. Wie seid Ihr bei der Gestaltung des Programms damit umgegangen?
FW: Die Initiative Berlinale Talents, und damit auch die behandelten Themen, entspringen einer Haltung, die tief in den Genen der Berlinale steckt: Gastfreundschaft, Weltoffenheit, Gemeinschaftsgefühl – und stets eine unvoreingenommene Freude auf das, was kommt. Da wandeln wir auf sehr solidem Grund und können uns im Programm freispielen. Wenn es um satirischen Humor in filmischer Bestform geht, fällt vielen zu Recht gerade Triangle of Sadness ein. Da sind wir schlicht neugierig: Wie haben Sie es gemacht, Herr Östlund? Aber weil Ruben Östlund den Zuschauer*innen in einer Art Stand-up-Act erstmal seinen ganzen neuen Film erzählen wird, geht es im Talk auch um etwas Anderes: die Menschen hinter dem Publikum erkennen, Beziehungen aufbauen, Ereignis schaffen, kurzum eigentlich: Kino machen.
Ruben Östlund räumt viele Preise ab. Das gilt auch für weitere Gäste dieses Jahr: Cate Blanchett, Todd Field, Hildur Guðnadóttir, Nina Hoss...
CT: Nicht zu vergessen, die Cellistin Sophie Kauer, die ihr Schauspieldebüt in TÁR gibt. Die Qualitäten dieses Films und seiner Protagonist*innen sind ohne Zweifel und bereits für sich allein genommen ein Grund, ins HAU Hebbel am Ufer zu kommen. Doch das ist nicht alles. Berlinale Talents wirbt für die Vielfalt der Gewerke, die – alle gemeinsam – erst das Gesamtkunstwerk eines Films ausmachen: Schauspiel, Regie, Komposition und musikalische Interpretation sind vereint bei diesem Talk... willkommen in „unserer Welt“!
Auf welche Gäste kann sich das Publikum im Berlinale Talents-Programm noch freuen?
FW: Die kürzlich – um nicht zu sagen: endlich – mit einem Oscar für ihr Lebenswerk ausgezeichnete Regisseurin Euzhan Palcy kommt erstmals nach Berlin. Ihr Film Sugar Cane Alley wird auf Einladung von Ava DuVernay in der diesjährigen Retrospektive gezeigt. Wir bieten ihr zudem die große Bühne. Die Chance, sich mit dieser damals wie heute sehr aktiven Kämpferin für Gleichberechtigung und Vielfalt zu verbünden, sollte man sich nicht entgehen lassen.
Wir freuen uns aber auch unbändig auf Geraldine Chaplin und John Malkovich. Diese beiden Legenden einmal im Dialog zu erleben, dürfte nicht nur ziemlich unterhaltsam, sondern sicher auch eine Lesson-with-a-smile zur intelligenten Schauspielkunst werden.
Ihr sagtet eingangs, es ginge „nicht darum, sich den klaren Blick auf die Realitäten wegzulachen“. Kommen wir nochmal zur Ernsthaftigkeit der Gegenwart. Wo findet sich diese in eurem Programm wieder?
FW: Zunächst einmal sind es viele auf dem Festival vertretene Filmschaffende, die uns ihre Zugänge zur Wirklichkeit anbieten. Das betrifft die Crew von Kiss the Future, darunter die iranisch-britische CNN-Chefkorrespondentin und Kriegsreporterin Christiane Amanpour sowie Zeitzeug*innen und Protagonist*innen aus dem damals besetzten Sarajevo während des Bosnienkriegs. Nenad Cicin-Sains eindringlicher Dokumentarfilm, der als Berlinale Special Gala präsentiert wird, über einen heute fast unglaublichen Moment des optimistischen Widerstands, zeigt eine interessante Alternative zur Gegenwart auf.
Zudem setzen wir diesmal Schwerpunkte in unserem Programm, um zwei Positionen besonders stark hervorzuheben: die unverstellten Perspektiven ukrainischer Filmschaffender im russischen Angriffskrieg und die Vertreter*innen des unabhängigen iranischen Kinos im Kampf gegen die Unterdrückung. Unsere Angebote im Rahmen des erstmals kooperativ veranstalteten World Cinema Fund Days (auf Einladung) und anderer öffentlicher Talks am 22. Februar sind aufrichtig: Wir geben denen eine Stimme, die wirklich betroffen sind, und laden das Publikum zum Zuhören, besseren Verstehen und Nachfragen ein. Zum WCF Day kommt auch Kulturstaatsministerin Claudia Roth, und wir danken unserer Hauptpartnerin für die nachhaltige und in jeder Hinsicht große Unterstützung von Berlinale Talents und unseren Anliegen.
Das Publikum scheint in eurem Programm jedes Jahr eine größere Rolle zu spielen. Macht ihr Berlinale Talents für eure eingeladenen Talente oder für das Publikum?
CT: Wie auch in den Festivalkinos, sitzen die Besucher*innen neben Filmschaffenden, diskutieren gemeinsam und lernen voneinander.
„Back to the Body – A Laughing Workshop“ ist vielleicht ein besonders schönes Beispiel für die bilaterale Ausrichtung von Berlinale Talents. Bei dieser Veranstaltung werden 200 Teilnehmende durch mit der Alexandertechnik vertraute Actingcoaches auf der Bühne in Bewegung und Beziehung gesetzt. Humor wird dabei körperlich erkundet: Wo nimmt er seinen physischen Ursprung, wie kann er Spannungen lösen? Das haben wir uns nach zwei Onlineeditionen alle verdient.
In der Tat, auch ihr seid zurück in Präsenz. Gibt es neue Formate oder bereits Erprobte aus den beiden Onlineausgaben von 2021/22?
CT: Unsere Formate weiterzuentwickeln und Synergien zwischen alt und neu zu schaffen, ist seit Beginn der Initiative Teil unserer DNA. Deshalb wissen wir gar nicht so genau, ob die aktuelle Entwicklung von Online- oder Präsenzveranstaltungen beeinflusst ist. Bereits seit letztem Jahr war es unser Anliegen, für drei Stunden täglich alle 200 Talente in einem Format zusammenzubringen, in dem es um Selbstreflexion, Stärkung von Ressourcen und Resilienz geht. Aus dem Onlineformat der Dream Journeys und den ebenfalls zunächst digital erprobten Talents Tanks ist nun ein handfestes Großgruppenformat in einem geschützten Rahmen entstanden. Dieses ermöglicht es, innere Räume zu öffnen, unbewusste Talente bei sich selbst zu entdecken, den oder die andere in ihrer Verschiedenheit zu verstehen und sich genauso über Visionen und Träume wie auch ganz konkrete Projekte auszutauschen. Gelebte Teilhabe und erfahrene Vielfalt in einer Gruppe von Menschen aus über 68 Ländern zu ermöglichen – das ist unsere Aufgabe. Dieses Jahr stehen die Talents Tanks für alle 200 Talente unter dem Thema „A Film Community of the Many“.
FW: „Many“ ist auch anderweitig ein gutes Stichwort, denn wir freuen uns sehr, dass rund 200 Alumni aus den vergangenen zwei Onlineeditionen nun zum Festival nach Berlin kommen. Für sie ist das Format der Talents Time entstanden: vier Nachmittage explizit zum Vernetzen zwischen den Alumni und aktuellen Talenten. Wir sind eine große Community – oder eben für viele auch Family.
Wird es nach der Rückkehr zu Präsenzveranstaltungen denn weiterhin Streams geben?
CT: Ja, wir bieten weiterhin Livestreaming aus dem HAU1 an, ansonsten werden alle öffentlichen Veranstaltungen aufgezeichnet und sind auf unserer Website zu finden. Dort lohnt es sich übrigens auch mal übers Jahr hinweg reinzuschauen: Aus den vergangenen 20 Jahren sind rund 300 Aufzeichnungen von Veranstaltungen kostenlos verfügbar.
Um eine nachhaltige Community aufzubauen, ist es sicherlich wichtig, dass die Talente nicht nur finanziell, sondern auch persönlich unterstützt werden. Wie schafft ihr es, den Kontakt zu bald 10.000 Alumni aufrecht zu halten?
FW: Der Grundstein für die Community ist sicherlich schon vor 20 Jahren mit unserer eigens entwickelten Datenbank und Website gelegt worden. Aus den Talents Tanks im letzten Jahr sind die Online Reconnects entstanden. Hier treffen wir Alumni alle zwei Monate digital zu unterschiedlichen Themen. Das Geheimnis dabei ist der kollektive Ansatz: Alle können Themen vorschlagen sowie Breakout Sessions selbst moderieren. Das ist sowohl für die Community als auch für uns sehr bereichernd und teilweise sehr berührend – gerade wenn aktuelle Sorgen aus Kriegs- und Krisengebieten in der Gruppe geteilt und besprochen werden.
CT: Da die Berlinale Talents-Initiative aus Projektmitteln und Sponsorengeldern finanziert wird, ist im nachhaltigen Aufbau der Community viel Kreativität und gleichzeitig eine klare Strategie und Haltung gefordert. Aus dieser Start-up-Mentalität heraus haben wir ziemlich erfolgreiche Zukunftsmodelle mit und für die Alumni sowie mit unseren Partnern und Sponsoren entwickelt. So sind auch die Talents Footprints entstanden: Zu denen zählen unter anderem das Mastercard Enablement Programme, der zusammen mit der Perspektive Deutsches Kino etablierte Kompagnon Förderpreis oder das Residency-Angebot gemeinsam mit dem Nipkow Programm und dem Medienboard: die Berlin Film Residencies. Beim Enablement Programme und Kompagnon Förderpreis gibt es nach Auswahl der Projekte eine kleine finanzielle Anschubfinanzierung. Parallel überlegen wir gemeinsam, welche nächsten Schritte besonders schwierig in der Umsetzung sind und warum. Dabei helfen Coaches oder Mentor*innen den Teilnehmer*innen oft über längere Zeiträume hinweg. Das Format ist auch in sich ein Erfolgsmodell, denn in der Zwischenzeit unterstützt der erste Jahrgang schon den jetzigen.
FW: Außerdem ganz wichtig zu erwähnen: Die Alumniarbeit machen wir zusammen mit unserem weltweiten Netzwerk aus Talents International Initiativen in Guadalajara, Buenos Aires, Rio de Janeiro, Sarajevo, Durban, Beirut und Tokio. Die Strategie ist dabei letztendlich einfach: zuerst die richtigen Partner*innen finden, mit denen wir gemeinsam Ziele und Visionen in Co-Creation umsetzen. Den Lead übernehmen immer die Filmschaffenden, Kreativen oder eben Organisationen in den jeweiligen Regionen der Welt, wir bleiben meist Kooperationspartnerin und Beraterin.
CT: Aktuell entwickeln wir nach diesem Modell, mit Unterstützung der Deutschen Welle Akademie und gemeinsam mit dem Durban Film Institut sowie einer panafrikanischen Gruppe aus Filmschaffenden, ein systemisch-integratives Trainingsprogramm für zukünftige Mentor*innen. Die Idee ist, dass nach Erprobung des Programms auch andere Initiativen oder gemeinnützige Organisationen dieses in ihren jeweiligen Regionen im Globalen Süden übernehmen und weiterentwickeln können.
Was ist Euch darüber hinaus wichtig? Wofür steht Berlinale Talents noch?
FW: Wichtig sind uns vor allem geistige Elastizität und die Offenheit, aneinander und gemeinsam zu wachsen. Das betrifft unsere eigenen Programme, aber für die Zukunft werden uns auch weiter stark vernetzen müssen.
CT: Im neuen MEDIA 360° Programm hat Creative Europe MEDIA uns beispielsweise gemeinsam mit dem European Film Market, Berlinale Co-Produktion Market und dem World Cinema Fund gefördert, damit wir als Berlinale Pro* gemeinsame Strategien und noch mehr Synergien in den nächsten drei Jahren umsetzen können. Dabei stehen konkrete Veränderungen für mehr soziale, ökonomische und ökologische Nachhaltigkeit im Zentrum, aber auch strukturelle Innovationen wie einfache digitale Zugänge. Es geht also immer wieder um Teilhabe!
Berlinale Talents ist eine Berlinale Pro* Initiative der Internationalen Filmfestspiele Berlin, ein Geschäftsbereich der Kulturveranstaltungen des Bundes in Berlin GmbH, gefördert von der Staatsministerin für Kultur und Medien, Creative Europe – MEDIA Programm der Europäischen Union, Medienboard Berlin- Brandenburg, Filmförderungsanstalt, Mastercard, ARRI und Auswärtiges Amt.