2023 | Berlinale Shorts
Reale Fiktionen
Abermals bietet das Programm der Berlinale Shorts einen Einblick in das breitgefächerte Spektrum und die besondere künstlerische Freiheit der kurzen Formen. Im Interview spricht Sektionsleiterin Anna Henckel-Donnersmarck darüber, wie die Filme der Auswahl Vergangenes mit Aktuellem verweben, Fiktion und Realität in Bezug setzen und welche bekannten Namen dieses Jahr zu den Berlinale Shorts zurückkehren.
Deine Begeisterung für den Kurzfilm liegt vor allem in dessen filmkünstlerischer Freiheit begründet. Welcher Film dieses Jahrgangs repräsentiert für dich diese Art von Freiheit?
Der Film, der mir als Erstes in den Sinn kommt, ist 8 von Anaïs-Tohé Commaret. Ein Film, der unheimlich schwer in Worte zu fassen ist, der einem durch die Finger schlüpft, sobald man ihn zu greifen versucht. Wie gefangen in den unendlichen Kurven einer 8 gleitet er dahin und macht doch, was er will.
Auch andere Filme verzichten auf eine konventionelle Erzählstruktur und sind Ausdruck eines Gefühls oder einer Stimmung. From Fish to Moon von Kevin Contento zum Beispiel, oder auch Qin mi (Daughter and Son) von Cheng Yu. In beiden Filmen mag ich, wie die Menschen miteinander umgehen. Es passiert nicht viel, aber es schwingt viel nach und man geht mit einem Gefühl der Geborgenheit aus dem Kino.
Für mich beinhaltet die künstlerische Freiheit aber auch sich zu erlauben, konventionell zu erzählen. Jede*r sollte die Mittel wählen, die dem, was ausgedrückt werden möchte, am besten gerecht werden. Alles kann, nichts muss. Ich bin sehr dankbar, dass wir bei der Berlinale die fantastische Möglichkeit haben, Freiheiten, die Künstler*innen sich sowohl formal als auch inhaltlich nehmen, mit einem Publikum zu teilen, das darauf neugierig ist. Und dass wir in einer Gesellschaft agieren können, in der diese Freiheiten gesetzlich verankert und geschützt sind.
„Fiktion vor realem Hintergrund“ ist die Überschrift des diesjährigen Programms. Seid ihr mit diesem Motto an die Vorauswahl herangegangen?
Nein, wir schauen uns alle eingereichten Filme ohne eine vorher festgelegte Erwartungshaltung an. Die Muster, Bezüge und roten Fäden treten erst zutage, wenn die finale Auswahl vor einem liegt und wir anfangen, das Programm zu bauen. Dieses Jahr sind die Filme in ihren Themen sehr heterogen. Ich finde, Parallelen lassen sich vor allem in den Erzählstrategien finden. Besonders auffällig ist dabei die Art und Weise, wie Realität und Fiktion jeweils zueinander in Bezug gesetzt werden.
Lass uns diese verschiedenen Strategien genauer anschauen. Gibt es wieder hybride Formen?
Ja, einige. The Waiting von Volker Schlecht ist ein Animadok, der auf ungewöhnliche Art Einblick in einen Forschungsalltag gibt. Ausgangspunkt ist ein Interview mit einer Wissenschaftlerin, die sich auf Frösche spezialisiert hat und deren Verschwinden verstehen will. Virtuos animierte Zeichnungen illustrieren das Gesagte, verselbstständigen sich gelegentlich und mäandern durch eine eigene Assoziationswelt.
Eine Überhöhung der Realität mit künstlerischen Mitteln findet auch in Terra Mater – Mother Land von Kantarama Gahigiri statt. Dieses wütende Poem platziert seine afro-futuristischen Held*innen auf den endlosen Müllbergen, die in Afrika abgeladen wurden, und lässt sie laut und stolz Anklage erheben gegen eine Weltbevölkerung, die endlich Verantwortung übernehmen muss für die Auswirkungen von Kolonialismus, Ressourcenverschwendung und Umweltzerstörung.
Mwanamke Makueni (Eine Frau in Makueni) von Daria Belova und Valeri Aluskina spielt ebenfalls an Originalschauplätzen – einem Gefängnis und auf den Straßen von Makueni in Kenia – und wurde mit Laiendarsteller*innen aus der Gegend inszeniert. Die fiktive Handlung jedoch, die Geschichte zweier Liebender, die nicht zueinander dürfen, könnte überall und zu jeder Zeit spielen.
Gibt es Filme, die mit autobiografischen Elementen arbeiten?
Marungka tjalatjunu (Dipped in Black) von Matthew Thorne und Derik Lynch basiert auf den Erfahrungen eines Mannes der Anangu Community. Er spielt auch die Hauptfigur und hat die Koregie übernommen. Der Film wird getragen von seiner ruhigen und zugleich stolzen Präsenz und von den in goldenes Licht getauchten weiten Landschaften Australiens.
Ours (Bär) von Morgane Frund entlarvt den voyeuristischen Blick eines Amateurfilmers. Der Film bleibt dabei nicht in der Empörung stecken, sondern nimmt die mühsame Arbeit des Konfrontierens und Erklärens auf sich und lässt uns teilhaben an den Gesprächen zwischen der Editorin, die als Ich-Erzählerin auftritt, und ihrem Auftraggeber.
In Back von Yazan Rabee schildert ein aus Syrien nach Europa geflüchteter junger Mann seinen wiederkehrenden Albtraum. In einer Collage aus Nachrichtenbildern, Gefühlen und Erinnerungsfetzen tastet er sich vor in die Historie des Landes, um die Wurzeln eines gesamtgesellschaftlichen Traumas zu finden.
Reflektieren weitere Filme das Heute, indem sie in die Vergangenheit schauen?
Les chenilles von Michelle Keserwany verwebt Spielfilmelemente mit Exkursen in die Historie der Seidenproduktion. Der Film nimmt die titelgebenden Seidenraupen als Ausgangspunkt, um Lyon mit der Levante und das Heute mit dem Damals zu verknüpfen und somit über Ausbeutung, Trauma und Solidarität zu sprechen. Gleichzeitig wird ein sehr schönes Porträt einer Frauenfreundschaft im Exil gezeichnet.
In The Veiled City von Natalie Cubides-Brady begibt sich eine Zeitreisende aus der Zukunft in das London von 1952, das im Great Smog, im Rauch der Fabrikschlote, zu ersticken droht. In Briefen an ihre Schwester versucht sie zu verstehen, wie es zu einer der ersten menschengemachten Umweltkatastrophen kommen konnte und welch weitreichende Konsequenzen diese haben würde. Die Bilder bestehen rein aus Archivmaterial der damaligen Zeit, die Briefe sind – vermutlich – fiktiv.
Es fällt auf, dass The Veiled City nicht der einzige Film ist, der seine Fiktion vor dem Hintergrund eines ganz konkreten historischen Ereignisses entfaltet.
Ja, das ist augenfällig dieses Jahr. Die letzten Urnengänge für die Stichwahl zwischen Macron und Le Pen 2022 in Frankreich stehen zum Beispiel am Anfang der durchgemachten Nacht von Donatienne Berthereaus Nuits blanches (Schlaflose Nächte). Solène, die Hauptfigur, verweigert sich jeglicher Verbindlichkeit und verliert letztendlich immer mehr an Halt – vielleicht auch ein zeitgenössisches Gesellschaftsporträt.
Wo de peng you (All Tomorrow’s Parties) von Zhang Dalei beginnt am letzten Tag der Asienspiele, die 1990 in Peking ausgetragen wurden, und endet mit einer von der Gewerkschaft organisierten Kinovorführung des Filmklassikers Les quatre cents coups (The 400 Blows) von François Truffaut. Damit thematisiert der Film auch die Frage, wer sich mit welcher Form von Kultur identifizieren kann – das Mega-Sportevent auf der einen und die improvisierte Filmvorstellung auf der anderen Seite. Beide sind gemeinschaftsstiftend, erfüllen aber sehr unterschiedliche Zwecke.
It’s a Date von Nadia Parfan spielt im Heute, allerdings in einem Heute, das leider jetzt schon in die Geschichtsbücher eingegangen ist: Kyiv 2022, während des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. Es ist ein Remake von Claude Lelouchs C’était un rendez-vous (It Was a Date) von 1976, mit einem anderen Drehort und einem leicht abgeänderten Ende: Statt eines heterosexuellen Paares umarmen sich hier zwei Frauen; eine von ihnen trägt militärische Tarnkleidung.
Neben Wo de peng you und It’s a Date blickt auch Jill, Uncredited von Anthony Ing in die Filmgeschichte.
Jill, Uncredited ist ein Zusammenschnitt aus 50 Jahren Film- und Fernsehgeschichte und eine Hommage an die Statistin Jill Goldston, die in 2000 Filmen mitgewirkt hat. Für mich ist es ebenso eine Hommage an all die „Nebendarsteller*innen unseres Alltags“; an die Personen, die nicht im Rampenlicht stehen, ohne die unsere Gesellschaft aber zusammenbrechen würde.
Und dann gibt es wiederum Filme, die wirken wie künstlerische Antworten auf gesellschaftliche Entwicklungen und Phänomene.
Seit über zehn Jahren häufen sich in Spaniens Ferienorten Fälle von „Balconing“: Junge Menschen, meist männlich und oft aus Großbritannien, versuchen von den Balkonen ihrer Hotels in den Pool zu springen. Sie verletzen sich dabei schwer oder kommen gar um. Der spanische Spielfilm La herida luminosa (Daydreaming So Vividly About Our Spanish Holidays) von Christian Avilés versetzt sich in die Gefühlswelt britischer Teenager, überzeichnet das Phänomen ins Absurde und versucht, Ursachen zu benennen.
A Kind of Testament von Stephen Vuillemin ist ein sehr cooler und in satter Schönheit getränkter Animationsfilm, der behauptet, Found Footage aus dem Internet zu sein. Die Handlung spielt auf mehreren Ebenen und schlägt immer wieder unerwartete, abrupte Haken. Es geht um Identitätsklau, um Mode, um Krebs und um den Tod.
In vielen Ländern ist das Recht auf Abtreibung in Gefahr, sodass diese verstärkt heimlich und mithilfe von Abtreibungspillen durchgeführt werden muss. „Ich gebe dir die Perlen, damit du dir eine Halskette machen kannst“, kursiert bei Selbsthilfegruppen in dem Fall als Code. Der hervorragend geschriebene und gespielte Spielfilm As miçangas (Perlen) von Rafaela Camelo und Emanuel Lavor entstand als Reaktion auf diese Entwicklung.
Es gibt viele Regieduos dieses Jahr.
Der erwähnte Marungka tjalatjunu ist die erste Koregie von Matthew Thorne, einem weißen Australier, und Derik Lynch, einem Mann indigener Abstammung, der im Film sich selbst spielt. Bei Les chenilles haben die Schwestern Michelle und Noel Keserwany Regie geführt, wobei Michelle das Buch geschrieben hat und Noel eine der zwei Hauptrollen spielt. Bisher sind sie vor allem im Kunstkontext und als Musikerinnen in Erscheinung getreten, dies ist ihr erster Film. Mwanamke Makueni ist die erste Zusammenarbeit von Daria Belova und Valeri Aluskina und ist in einem Workshop mit kenianischen Filmstudierenden entstanden. Auch Rafaela Camelo und Emanuel Lavor haben mit As miçangas zum ersten Mal gemeinsam Regie geführt. Wohingegen Lucija Mrzljak und Morten Tšinakov mit Eeva bereits das dritte Mal zusammengearbeitet haben. Ihr komischer, surrealer und zugleich trauriger Animationsfilm über das brutale Ende einer Beziehung geht auf einen Traum von Morten zurück, in dem ein Specht eine Nachricht als Morsecode in einen Sargdeckel hämmert, bevor er mit einem Regenschirm erschlagen wird.
Gibt es in der diesjährigen Auswahl Filmemacher*innen, die schon einmal bei der Berlinale zu Gast waren?
Billy Roisz ist zurück und präsentiert mit Happy Doom erneut einen abstrakten Experimentalfilm, der die Leinwand und Lautsprecher zum Pulsieren bringt und uns in einen kurzen, psychedelischen Farbrausch mitnimmt. Volker Schlecht und Alexander Lahl, zusammen mit Max Mönch die Macher von The Waiting, waren 2016 mit Kaputt bei uns. Und Zhang Dalei gewann 2021 mit Xia wu guo qu le yi ban (Day Is Done) den Silbernen Bären der Berlinale Shorts und präsentiert dieses Jahr nicht nur den Kurzfilm Wo de peng you, sondern auch die Serie Why Try to Change Me Now.
Wen konntest du dieses Jahr für die Internationale Jury der Berlinale Shorts gewinnen?
Die Spielfilmregisseurin Isabelle Stever ist eine der spannendsten Stimmen des deutschen Kinos. Sie sorgte letztes Jahr mit Grand Jeté im Panorama der Berlinale für Furore. Cătălin Cristuțiu ist Editor und hat für zahlreiche Bärengewinner, sowohl im Lang- als auch im Kurzfilm, die Montage zu verantworten. Er kennt die Sektion Berlinale Shorts gut, weil er 2022 mit Amintiri de pe Frontul de Est (Memories from the Eastern Front) und 2019 mit Blue Boy bei uns gewesen ist. Sky Hopinka ist Künstler und arbeitet mit Film, Foto, Text und Raum. 2022 haben wir seinen Film Kicking the Clouds gezeigt. Aktuelle Arbeiten von ihm kann man noch bis Ende Februar in der Berliner Galerie Tanya Leighton sehen.
Als Sektionsleiterin hast du die Verantwortung für die Auswahl der Filme. Wer steht dir in diesem Prozess zur Seite und welche Expertisen und Erfahrungen bringen diese Personen mit?
Theorie und Praxis ist bei uns gleichermaßen vertreten, das Gremium besteht aus Filmemacher*innen, Filmwissenschaftler*innen, Kurator*innen, Künstler*innen und Kulturarbeiter*innen. Wir sind in Argentinien, Deutschland, Indonesien, Japan, Spanien, in der Schweiz und in der Ukraine aufgewachsen und haben später in Barcelona, Berlin, Bologna, Duhok, Kigali, London, Mexiko-Stadt, New York City, Paris, Ramallah und/oder Teheran gelebt und gearbeitet. Einige sind seit der Gründung der Sektion 2007 dabei, andere kamen vor zwei Jahren dazu. In alphabetischer Reihenfolge sind das: Wilhelm Faber, Azin Feizabadi, Alejo Franzetti, Maria Morata, Jana Riemann, Sarah Schlüssel, Nihan Sivridag und Simone Späni.
Wo kann man mehr über die Filme erfahren?
Eine Möglichkeit sind die kurzen Filmgespräche, die wir nach der Präsentation mit dem Filmteam im Kino führen. Und bei den Wiederholungen namens Shorts Take Their Time (STTT) nehmen wir uns die Zeit, um miteinander und mit dem Publikum ausführlicher ins Gespräch zu kommen. Genauso spannend finde ich es, einen Film durch die Augen von jemand anderem Revue passieren zu lassen, weswegen ich mich sehr auf die Skizzen der Künstlerin Dorothea Schulz freue, die, im dunklen Kinosaal sitzend, wieder ihre Eindrücke von den Filmen zeichnend festhalten wird. Diese sind dann auf dem Blog der Berlinale Shorts zu finden, ebenso wie die Presserezensionen zu den einzelnen Filmen und Interviews mit allen Filmemacher*innen, die fortlaufend ergänzt werden.