2023 | Artistic Director's Blog
Berlinale 2023:
Die Kunst, Realität zu formen
Carlo Chatrian war von Juni 2019 bis März 2024 Künstlerischer Leiter der Berlinale. In seinen Texten nähert er sich dem Festival, herausragenden Filmschaffenden und dem Programm auf persönliche Art und Weise.
Das Erzählen von Geschichten ist die älteste Methode, mit der wir Menschen das Chaos bewältigen und Ängste und Konflikte überwinden können. Das trifft auf Fiktionen zu – und wahrscheinlich noch mehr auf das Dokumentarische. Die Aufnahme von Bildern ist immer ein bisschen so wie ihre Zähmung. Wenn wir bewegte Bilder sehen, stellt sich neben dem unvermeidlichen Gefühl, dabei zu sein, auch stets das Bewusstsein ein, dass diese Bilder aus der Vergangenheit stammen. Darüber hinaus komponiert jeder Film eine Geschichte, die Bilder auswählt, um dem Chaos der Wirklichkeit einen Sinn zu geben. Die Kunst des Realen ist zugleich die Kunst, Realität zu formen.
Dokumentarfilme verbinden uns mit der realen Welt – wie gemeinhin gesagt wird. Es besteht kein Zweifel an der immersiven Kraft von Dokumentarfilmen, aber auf welche „reale Welt“ beziehen sich die Filme? Üblicherweise ist diese „reale Welt“ der Teil unseres Planeten, mit dem wir zwar nicht physisch verbunden sind, dem wir uns aber nahe fühlen, weil wir ständig etwas über ihn hören. In den vergangenen zwölf Monaten ist der Angriffskrieg auf die Ukraine zur „realen Welt“ geworden, über die wir etwas erfahren wollen. Die Dokumentarfilme des Festivals sind gute Beispiele dafür, wie ein derart dramatisches und komplexes Thema im Film dargestellt und behandelt werden kann. Es kann sich in seiner historischen Entwicklung – dank umfangreicher Recherche – entfalten, wie in Iron Butterflies. Oder Gegenstand eines persönlichen Werdegangs sein, wie Sean Penn und Aaron Kaufman es mit Superpower zeigen. Eine noch persönlichere und eindringlichere Erfahrung erleben wir durch Shidniy Front. Der Film basiert auf der Arbeit von Yevhen Titarenko, einem Mitglied der „Hospitaliter“, ein Sanitätsbataillon, das Verletzten Erste Hilfe leistet. Während seiner Einsätze filmte Titarenko entweder mit einfachem, leichtem Equipment – wie einer GoPro-Kamera – oder mit größeren, komplexeren Modellen. Der Film besteht aus friedvollen Momenten zu Hause oder im Freundeskreis, die mit heftigen Sequenzen im Krankenwagen verflochten sind; so wird uns das schizophrene Tempo vermittelt, das Menschen im Krieg ertragen müssen.
Der Vergleich zu Vergiss Meyn Nicht liegt nahe. Der Film basiert auf dem Material, das von einem Filmstudenten mit Helmkamera während der Proteste im Hambacher Forst aufgenommen wurde. Er versetzt die Zusehenden direkt auf die Bäume, wo Klimaaktivist*innen lebten und sich gegen die Räumungsversuche der Polizei wehrten. Dieser unmittelbare Stil macht die Arbeit zu einer höchst immersiven Erfahrung. Die Tatsache, dass wir von Anfang an um das traurige Ende des Kameramannes wissen, verleiht dem Film eine zusätzliche emotionale Ebene.
Stilistisch weniger drastisch, aber genauso fesselnd und komplexer in seiner Erzählweise, ist Claire Simons Film, der in Krankenhäusern entstanden ist – ein weiterer Ort, mit dem wir normalerweise nicht verbunden sind, es sei denn, die Umstände zwingen uns dazu. Notre Corps ist eine 360°-Untersuchung der Arten der Wahrnehmung des (weiblichen) Körpers. Der Film ist in einem beobachtenden Stil gedreht und entwickelt eine starke Empathie für die porträtierten Frauen, so dass die Filmemacherin schließlich selbst zu einer der Protagonistinnen wird.
Obwohl sie das Ergebnis langer Recherche- und Schreibprozesse sind, beschäftigen sich Dokumentarfilme mit Geschichten, die jederzeit überraschende Wendungen nehmen können. Notre Corps ist ein großartiges Beispiel dafür, dass Filmschaffende offen bleiben müssen, um jene unerwarteten Ereignisse in ihr Storytelling einzubinden, die mehr als alles andere das Gefühl der Wirklichkeit in sich tragen.
Mit El juicio – der ebenfalls im Forum gezeigt wird – schlägt der Dokumentarfilm eine ganz andere Richtung ein. Die Arbeit beruht auf Aufnahmen des berüchtigten Prozesses gegen Präsident Videla und seine Militärjunta im Jahr 1985, die die Entführung, Folter und den Tod Tausender Bürger*innen in Argentinien zugelassen und zu verantworten haben. Es sind aus der Vergangenheit entnommene Bilder, die die Qualität und Stärke vergessener Erinnerungen haben. Ursprünglich als Mitschnitt der Gerichtsverhandlung aufgenommen, unterstreichen sie die neutrale Qualität der von der „Kameramaschine“ erzeugten Bilder, die nicht durch einen (subjektiven) menschlichen Blick geformt oder verwässert werden. So, als ob ein großes, relevantes Stück Realität 40 Jahre später an der Oberfläche aufgetaucht ist. Weniger spektakulär als der Spielfilm von Santiago Mitre (Argentina, 1985), ersetzt El juicio die Rhetorik des Kinos durch etwas Einfacheres und Unmittelbares: die Macht des realen Zeitdokuments.
Das Gefühl, vor Ort zu sein, das Dokumentarfilme uns geben, in welcher Form oder Erzählung auch immer, ist von unschätzbarem Wert – insbesondere, wenn es sich um geschichtsträchtige Momente handelt. Das trifft auf Le mura di Bergamo zu, einen Film, der im Frühjahr 2020 gedreht wurde, als die Corona-Pandemie in Norditalien wütete. Zusammen mit einigen jungen Filmemacher*innen zeichnete Stefano Savona diese schrecklichen Tage auf. Sie filmten leere Straßen und überfüllte Krankenhäuser. Nicht nur mittels der Bilder, sondern auch durch den Ton – vor allem durch die Aufzeichnungen der Notrufe – wird das Gefühl, dabei zu sein, greifbar. Der Film geht über diese besonders tragische Zeit hinaus, indem er versucht, die langsame Erholung nach der Hochphase der Pandemie zu beleuchten, sowohl auf individueller als auch kollektiver Ebene.
Echte Menschen und ihr bewegtes Leben zu filmen erfordert einen starken moralischen Standpunkt – der oft in Begriffen des „richtigen Abstands“ gefasst wird. Filmen ist immer eine Frage des Abstands, aber im Dokumentarfilm folgt dieses Konzept anderen Regeln und oft ist ein Schritt zurück die bessere Option. Aber nicht immer. In Tatiana Huezos El eco, der eine kleine Gemeinde in einer abgelegenen Bergregion im Norden Mexikos porträtiert, entscheidet sich die Filmemacherin für eine Inszenierung, bei der die Nähe zu den gefilmten Menschen – insbesondere den Kindern – eine Selbstverständlichkeit ist. In einem solchen Film spiegelt sich die Aufmerksamkeit, die den Landschaften und der nebelhaften Schönheit der mexikanischen Natur beigemessen wird, in den Nahaufnahmen der Protagonist*innen wider. Das Ergebnis ist das Gefühl einer Welt, in der es keinen Unterschied zwischen Menschen und Orten gibt. Ganz anders als bei sonstigen beobachtenden Filmen variiert die Entfernung der Kamera hier häufig, wodurch die Präsenz des „Kinos“ noch offensichtlicher wird.
Man kann diesen kurzen Blogeintrag nicht beenden, ohne Sur l'Adamant zu erwähnen, den Dokumentarfilm, der im Wettbewerb läuft. Der Titel bezieht sich auf ein Boot, das am Ufer der Seine vor Anker liegt und zu einem Tageszentrum für Menschen mit psychischen Erkrankungen geworden ist. Zum gleichen Thema hat Nicolas Philibert 1996 bereits La moindre des choses gedreht, sein wohl schönster und kämpferischster Film. Er wurde in der von Jean Oury gegründeten Klinik La Borde gedreht, in der auch Guattari und Deleuze tätig waren, und begleitet die Theaterproben von Patient*innen und Betreuer*innen. Das Prinzip, den Patient*innen der Klinik Eigeninitiative und Verantwortung durch Situationen zurückzugeben, in denen sie arbeiten und ihre Kreativität zum Ausdruck bringen können, liegt auch dem Adamant zugrunde. Das Bemerkenswerte an Philiberts Herangehensweise ist, dass die Kamera keinerlei Wertung vornimmt. Beim Betrachten des Films ist es fast unmöglich, zwischen Pfleger*innen und betreuten Personen zu unterscheiden. Die Kamera ist präsent und sichtbar, aber sie ist nie hinderlich. Der richtige Abstand wird, ohne vorgefasste Regeln, immer eingehalten. Für Philibert besteht die Kunst des Dokumentarfilms darin, Brücken zu schlagen: Der Blick der Gefilmten verlangt eine Antwort, provoziert eine Bewegung zu ihnen hin – was in diesem Fall eine starke soziale und politische Bedeutung hat.
Das trifft auch auf Filme zu, die sich für einen hybriden Stil entscheiden, wie Orlando, ma biographie politique oder Mon pire ennemi. Diese Dokumentarfilme sind das beste Rezept für eine gesunde Gesellschaft: Ein Ort, an dem Widersprüche nicht versteckt, sondern als Chance begriffen werden, um Vielfalt zu leben. Wir könnten sie als Übungen in Demokratie begreifen, denn diese Filme versuchen, eine andere Gesellschaft zu zeigen und gleichzeitig Zuschauer*innen (jede*n Einzelne*n) in ihr Geschichtenerzählen einzubeziehen. Indem wir mit der Kunst des Realen arbeiten, statt mit Fiktion zu spielen, wird ihr Versuch nur noch sinnvoller und relevanter für uns alle.
Carlo Chatrian