2022 | Artistic Director's Blog

Standhaft bleiben

2020: Carlo Chatrian (rechts) mit Philippe Falardeau, dem Regisseur des damaligen Eröffnungsfilms My Salinger Year, auf der Bühne des Berlinale Palastes

Carlo Chatrian war von Juni 2019 bis März 2024 Künstlerischer Leiter der Berlinale. In seinen Texten nähert er sich dem Festival, herausragenden Filmschaffenden und dem Programm auf persönliche Art und Weise.

Als ich diese Zeilen schrieb, wusste ich noch nicht, ob die 72. Ausgabe des Festivals stattfinden kann. Vor ein paar Jahren hätte ich so eine Situation unerträglich gefunden. Inzwischen haben wir gelernt, mit einem Zustand diffuser Ungewissheit umzugehen und über den Horizont der Ereignisse, deren Entwicklung wir nicht absehen können, hinauszublicken.

Die Berlinale 2021 hat gezeigt, wie wertvoll Flexibilität und Anpassungsfähigkeit nicht nur beim Film und bei den Künstler*innen sind, sondern auch beim Kino und bei denjenigen, die es unterstützen - so wie wir. Die diesjährige Ausgabe stellt uns vor neue Herausforderungen. Wir sind der Auffassung, dass jetzt Standhaftigkeit an die Stelle der Flexibilität treten muss, damit der Film und das Kino endlich wieder ihre wichtigste Aufgabe wahrnehmen können.

Ein Festival wie die Berlinale kann nur unter bestimmten Bedingungen existieren. Es geht nicht darum, einen Modus Operandi (in Präsenz) gegen einen anderen (online) durchzusetzen, sondern darum, als Beschützer*in eines Raums in Erscheinung zu treten, der zu verschwinden droht. Einen Film in einem Kinosaal anzuschauen, das Atmen, Lachen und Geflüster der anderen zu hören (auch unter Wahrung der Abstandsregeln), trägt nicht nur entscheidend zum Sehvergnügen bei, es stärkt auch die gesellschaftliche Funktion, die das Kino hat und weiterhin haben muss. Wenn Filme den Anspruch und den Ehrgeiz haben, von den Menschen in ihrer Lebenswelt zu erzählen, müssen sie sich an eine Gemeinschaft richten, an ein Publikum und nicht an eine Menge von Nutzer*innen, die sich jede und jeder für sich einloggen. Auf einem Festival werden die Filme in einem Raum gesehen, der niemandem gehört. Wer ihn betritt, stimmt unabdingbaren Regeln zu. An einem Festival teilzunehmen bedeutet: eine Erfahrung gemeinsam mit anderen machen, die oft nicht den gleichen Hintergrund oder Geschmack und andere kulturelle Vorlieben haben. Wer sich gemeinsam mit anderen einen Film an einem öffentlichen Ort ansieht, lernt Offenheit und Demut – und das scheint uns heute unverzichtbar.

Filme haben längst bewiesen, dass sie Grenzen überwinden können, aber im diesjährigen Auswahlprozess konnten wir feststellen, dass diese Freiheit des Kinos – einschließlich der Möglichkeit, Filme auch im Lockdown zu drehen – nichts nützt, wenn die Freiheit des Denkens nicht gegeben ist. Viele der Filme, die in diesem Jahr eingereicht wurden, sind während der Pandemie entstanden und zeigen dies auch direkt. Wir haben zahlreiche Filme gesehen, die nur an einem Ort spielen, Filme mit wenigen Figuren und Filme, die virtuelle Fenster in andere Kontexte, in denen Isolation eine Rolle spielt, öffnen. Die Branche hat uns mit vielen Filmen konfrontiert, die die Geschehnisse im vergangenen Jahr auf eine Weise zeigen, als sei keine andere Entwicklung möglich gewesen. Diese Botschaft haben wir wahrgenommen; wir haben versucht, sie in unserer Auswahl zu berücksichtigen und gleichzeitig den künstlerischen Anspruch im Blick zu behalten, dass ein Film mehr sein muss als ein Spiegel des Status quo.

Die Filme der 72. Berlinale liefern eine treffende Beschreibung der Welt in ihrem derzeitigen veränderten Zustand, aber auch der Welt, wie sie war, wie sie sein sollte oder sein könnte. Nie waren die Bewohner*innen des Planeten weiter voneinander entfernt und zugleich einander so ähnlich in ihrer Lebensweise. Dem Wunsch, das wiederzugeben, was wir durchlebt haben, begegnen viele Filme mit der Kraft der Fantasie, der Ironie, des Gefühls, der mal leidenschaftlichen, mal gewaltsamen körperlichen Auseinandersetzung zwischen Menschen. Erfahrene Meister*innen ihres Fachs und Debütant*innen wollen dem herrschenden Einerlei mit Geschichten trotzen, die mit stilistischer Freiheit und Lust am Experimentieren überraschen. Wir haben uns in Filme verliebt, die den Mut haben, in der Barriere das Sprungbrett zu erkennen und die unsichtbaren Grenzlinien zwischen uns und unseren Nächsten in Verbindungslinien zu verwandeln. Wir haben in diesem Jahr mehr Liebesgeschichten gesehen – und mit Freude gesehen – als je zuvor: verrückt, unwahrscheinlich, unerwartet und berauschend. Alle Filme der 72. Berlinale – auch die, die den Blick nur auf eine einzige Person richten – sind Erzählungen, die für eine Zuschauer*innengemeinschaft gedacht sind, die sich zu begeistern vermag, die applaudieren und auch buhen kann. Dieses Festivalerlebnis streben wir an. Und wenn wir doch darauf verzichten müssten, dann sollten wir dies mit einer Geste des Einspruchs tun. Damit wir im nächsten Jahr gestärkt und gefestigt wieder daran anknüpfen können.

Carlo Chatrian