2022 | Perspektive Deutsches Kino
Neue Akzente und alte Geister
Auch dieses Jahr zeigt die Perspektive Deutsches Kino ein abwechslungsreiches Programm in Form und Inhalt. Neu ist der erweiterte Blick auf die vielfältigen filmischen Gewerke. Es ist die letzte Edition für Sektionsleiterin Linda Söffker, die nach zwölf Jahren die Perspektive verlässt. Im Interview spricht sie über die Perspektive-Talente, Echos der Vergangenheit und einen von der Symbolkraft des Waldes faszinierten Filmnachwuchs.
Erweiterter Blick auf filmische Gewerke
Dieses Jahr kommt den verschiedenen Gewerken eine größere Aufmerksamkeit zu. Hat das auch den Blick auf die Filmauswahl bestimmt?
Ja, wir wollten die Aufmerksamkeit darauf lenken, dass Film als Gesamtkunstwerk entsteht. Es ist eine Kollektivarbeit und diverse Gewerke tragen dazu bei, dass ein Film gelingt. Die traditionelle Würdigung ist stark auf Regie- und Produktionstalente gerichtet. Wir in der Perspektive haben viele Jahre den Preis für den besten Film an die Regie vergeben. Das ist auch gut so. Aber zukünftig wollen wir die Würdigungen breiter fächern und ernennen deshalb für jeden Film noch ein Perspektive-Talent aus einem Gewerk. Alle Filme, die wir ins Programm eingeladen haben, haben wir unter dem Aspekt betrachtet: „Wer ist hier ein besonders auffälliges Talent aus dem Nachwuchsbereich, auf das wir aufmerksam machen wollen?“ Dabei sind uns Kamera, Szenenbild, Montage, Schauspiel, ein junger Produzent sowie eine Dokumentarfilm-Regisseurin aufgefallen. Eigentlich wollten wir an diese Talente Patenschaften vergeben, was nun allerdings aufgrund von Corona in diesem Jahr nicht stattfinden kann – leider.
Werden jedes Jahr dieselben Gewerke näher betrachtet oder können sich durchaus auch andere hervortun, als die, die Du eben genannt hast?
Ja, absolut. Wir suchen nach den herausragendsten Filmen des jeweiligen Jahrgangs und schauen, wo sich der Filmnachwuchs gerade auffällig hervortut, in welcher Art auch immer. So kann es sein, und ich hoffe es auch, dass unterschiedliche Gewerke dabei sein werden.
Es ist Deine letzte Edition bei der Perspektive Deutsches Kino: Was wünschst Du Dir für die Sektion?
Ich wünsche mir, dass es weiter aufregende Filmemacher*innen gibt, die deutsche Filme produzieren wollen und hier Kino machen. Sie sollen einen Platz auf der Berlinale haben, der die Filmemacher*innen dem Publikum und der Branche bekannt macht. Ein Platz, der die Leute hinter diesen Gesamtkunstwerken sichtbar macht, ihnen die Ängste vor einem roten Teppich und vor dem Kontakt mit dem Publikum nimmt. Die Filmemacher*innen, die bei der Perspektive im Programm sind, stehen alle am Anfang ihrer Karriere und lernen auch selbst noch dazu. Sie müssen die Herausforderungen erfahren, die so eine Filmpremiere mit sich bringt. Ich wünsche mir außerdem, dass die Sachen, die wir in den letzten Jahren angeschoben haben, Früchte tragen. Dass die Talente weiterkommen und zukünftig in anderen Sektionen, auf anderen Festivals, auch weltweit, zu sehen sein werden. Schließlich aber auch, dass die Idee mit den Gewerken, die wir dieses Jahr nur im kleinen Rahmen aufbauen konnten, fortgeführt wird und von den Perspektive-Nachfolger*innen hochgehalten wird (lacht).
Waren die Sichtung und der Selektionsprozess angesichts Deiner letzten Edition anders für Dich als sonst?
Anders war zum Beispiel, dass der sensiblere Blick auf die Gewerke den Blick auf den Film überhaupt verändert. Ist man sensibilisiert auf das, was die einzelnen Departments gemacht haben, dann ist man dem Film als Gesamtkunstwerk, den einzelnen Fertigkeiten und dem Aufwand noch respektvoller gegenüber, finde ich. Es ist schön, wenn auch das Publikum durch die Betonung der Gewerke einen neuen Zugang zu Filmen erhält (lächelt).
Ist es eine schwierige Aufgabe, der DNA der Perspektive treu zu bleiben, vor allem Nachwuchs-Filmemacher*innen zu fördern, gleichzeitig aber das Gewerk zu würdigen, was besonders hervorsticht?
Ja, ich würde es aber als Privileg bezeichnen (lacht).
Der deutsche Filmnachwuchs und die Faszination des Waldes
Das Programm beschäftigt sich mit der Wirkung vergangener Geschehnisse auf die Gegenwart und der Symbolik des Waldes. Wie wird das in der Filmauswahl repräsentiert?
Beim Sichten fielen uns viele Filme mit dem Motiv und dem Drehort des Waldes auf. Zudem war auffällig: Viel rührt dieses Mal von der Vergangenheit her. Wir haben Filme im Programm, in denen ein Echo aus der Vergangenheit in der Gegenwart widerhallt. Bei Echo – der Film trägt es schon im Titel – ist es etwa eine Moorleiche, die im Wald gefunden wird. Das Moor konserviert diese Leiche. Im übertragenen Sinne lässt Mareike Wegener so also die Vergangenheit oder vielleicht auch die Wahrheit zu Tage treten. Auch in Schweigend steht der Wald geht es um eine Frau, deren Vergangenheit sie einholt, da ihr Vater vor Jahren in dem Wald verschwand, in dem sie nun ein Praktikum absolviert. Und um eine Leiche, die im Wald vergraben ist. In dem Film von Saralisa Volm weist diese auf ein großes Verbrechen hin, das möglicherweise ein ganzes Dorf einschließt und die Gegenwart beeinflusst.
Das Echo der Vergangenheit kann sich in Sorry Genosse von Vera Brückner aber auch um den ehemalig geteilten deutschen Staat drehen…
Genau – und eine Liebe zwischen einem Pärchen in Ost und West, das einen Fluchtversuch wagt. Die Liebe überwindet hier buchstäblich Grenzen und diese Geschichte wird rückblickend und in ihrer Aufbereitung sehr aufregend erzählt. Es ist der Filmemacherin ein Anliegen, dass junge Leute wissen, dass es sich lohnt, zu kämpfen und ungewöhnliche Wege zu finden. Und mir lag die Repräsentation der ostdeutschen Geschichte auch schon immer am Herzen. Dieser Film handelt von einem Stück deutscher Vergangenheit, das man derart selten erzählt hat.
Das Motiv des Waldes hast Du ebenfalls in der Pressemitteilung hervorgehoben. Warum, glaubst Du, dass der deutsche Filmnachwuchs sich mit diesem Symbol beschäftigt?
Eine Erklärung dafür habe ich nicht direkt. Dass der Wald so oft vorkommt, sowohl als Symbol als auch als Drehmotiv, hat sicher unterschiedliche Gründe. Angesichts von Corona ist der Wald möglicherweise ein guter, Schutz bietender Drehort im Freien. Zudem, wenn man in diesen unsicheren Zeiten Fragen an die Vergangenheit und damit auch Fragen an die Zukunft stellt, dann hat dies häufig mit einem selbst und der eigenen Identität zu tun: „Wo komme ich her?“ Und der Wald ist besonders in Deutschland ein Sinnbild, glaube ich, für Gegensätze: Identität und Vergangenheit, für Schutz und Gefahr, Freiheit und Dunkelheit…
Der Wald vereint also diese Gegenpole symbolisch. In manchen Filmen ist er ein Ort der Sehnsucht, in manchen ein Ort der Gefahr. Im Eröffnungsfilm Wir könnten genauso gut tot sein ist er beispielsweise eine Bedrohung...
Ja, es ist der Ort, vor dem alle flüchten. Natalia Sinelnikova charakterisiert das Hochhaus als Rettungsort, in dem alle sein wollen und wo die Hausgemeinschaft in einem geschützten Raum zusammenlebt. Der Wald, das da Draußen, ist hingegen der Ort der Gefahr. Aber eigentlich geht es um den Ort der vermeintlichen Sicherheit, der Wald ist nur der Gegenpol im Hinterkopf.
Constantin Hatz nutzt in Gewalten ebenfalls das Waldmotiv und thematisiert Wirkungen aus der Vergangenheit auf das Hier und Jetzt…
Ja, bei ihm ist der Wald allerdings ein Ort, der einem sehr melancholischen und einsamen Jungen Schutz bietet. Sehnt sich der Junge nach Berührung oder benötigt er Schutz, so legt er sich auf das Moos, streichelt es und lässt sich wärmen. Der Wald vereint beide Motive, beide Pole, Schutz und Gefahr. Der Film zeigt außerdem einen Mann, der in sein Heimatdorf zurückkommt und den Jungen im Wald trifft. Der Junge glaubt, in diesem Rückkehrer einen Freund gefunden zu haben. Er fühlt sich zu ihm hingezogen und es entsteht eine Verbindung, die im Dorf für Unruhe sorgt.
Um nochmal auf den Eröffnungsfilm zurückzukommen: Wie kam es zu der Entscheidung, Wir könnten genauso gut tot sein als Eröffnungsfilm zu zeigen?
Ich finde, dass in diesem Film sehr viel zusammenkommt: Er zeigt eine auffällige, interessante junge Handschrift. Zudem handelt es sich um einen Abschlussfilm einer Absolventin der Filmuniversität Babelsberg. Sie hat mit Unterstützung einer ebenfalls noch jungen Produzentin ein sehr aufwendiges Werk geschaffen. Wir haben bei diesem Film die Szenenbildnerin Elisabeth Kozerski als Perspektive-Talent ausgewählt. Sie hat wirklich eine hervorragende Arbeit mit dem beschränkten Budget eines Erstlingsfilmes geleistet – sowohl im gesamten Szenenbild als auch in einzelnen Ausstattungen. Die Kamera erkundet dieses Hochhaus auf eine sehr schöne Art und Weise. Bei diesem Film muss man sich viele Fragen stellen, darf gleichzeitig aber mal lachen. Er vermittelt eine Stimmung, die intellektuell anregt, aber ebenso schmunzeln lässt. Und das ist für einen Eröffnungsfilm eine gute Mischung.
Der Film Rondo thematisiert auch den Bezug von Vergangenheit und Gegenwart...
…und das in einer wirklich ästhetischen Form und mit einer hervorragenden Protagonistin, die auch als Perspektive-Talent ausgewählt wurde. Der Film von Katharina Rivilis macht so einen impressionistischen Eindruck. Es geht um eine junge Frau, die mit ihrem Partner über das Wochenende wegfährt und an demselben Ort schon einmal mit ihrem Ex-Freund war. Der Film verdeutlicht, dass die Vergangenheit stets Fragen an Gegenwart und Zukunft richtet. Häufig ist es ja so, dass Erinnerungen etwas verwaschen sein können und vergangene Erfahrungen schöner darstellen als sie tatsächlich waren. Dieser Eindruck entsteht zum Beispiel auch durch die Weichzeichnung des Bildes. Es wirkt, als wolle die Filmemacherin diese Zeitpunkte miteinander abgleichen.
Schließlich hat die Perspektive noch den Dokumentarfilm Ladies Only eingeladen, der über Frauen in Indien erzählt. Wie reiht dieser sich in das diesjährige Programm ein?
Die Filmemacherin dreht in einem Zugabteil, das nur für Frauen zugelassen ist. Dort fragt sie die Frauen: „Was nervt Euch, was macht Euch wütend?“ Die Frauen beginnen, von ihrem Leben zu erzählen, von ihren Träumen, von dem, was gut und schlecht läuft, manchmal von alltäglichen Dingen wie Mode oder anderes. All das produziert ein Bild von Mumbai, von der Gesellschaft in Indien, das sehr vielfältig leuchtet, obwohl es in einem kontrastreichen filmischen Schwarz-Weiß erzählt ist. Auch hier kann man das Echo der Vergangenheit hören, wenn man will... (lacht).
Die Preise der diesjährigen Edition
Es war erneut ein schwieriges Jahr. Mit der Vergabe welcher Preise können die Filmemacher*innen rechnen? Du sagtest eingangs, dass Patenschaften für die Perspektive-Talente geplant waren, nun aber nicht stattfinden können. Wie gestaltet sich dann ihre Würdigung?
Auch wenn die geplanten Patenschaften mit Mentor*innen der Deutschen Filmakademie nicht stattfinden können, wollen wir an der Idee festhalten, Aufmerksamkeit für die verschiedenen Gewerke zu schaffen. Daher widmen wir ihnen einen der drei Preise, die wir vergeben: Den seit 2017 etablierten Kompagnon-Förderpreis verleihen wir zusammen mit Berlinale Talents an das beste neue Projekt eine*s*r Regisseur*s*in der letzten Edition. Die beiden anderen Preise gehen an ein Talent unserer aktuellen Edition. Den Kompass-Perspektive-Preis vergeben wir an den/die Regisseur*in des besten Films im Programm, und den Heiner-Carow-Preis von der DEFA-Stiftung überreichen wir dieses Jahr erstmals an ein Perspektive-Talent aus den Gewerken. Es freut mich sehr, dass die Herausstellung der Gewerke nun auch mit einer Preisvergabe verbunden ist.