2022 | Panorama

Mutterbilder

„Achtung! Hochspannung.“ verspricht das Panorama für die 72. Berlinale. Im Interview spricht Sektionsleiter Michael Stütz über ein extrem weit gespanntes 2022er-Programm, das großes Kino zu bieten hat, das prägende Motiv der Mutter und das Verschwimmen der Zeiten in einem legendären New Yorker Hotel.

Viens je t’emmène (Nobody’s Hero)

Wie hat sich das letzte Jahr angefühlt?

In jedem Fall ein interessantes Jahr. Durch das Summer Special hat sich das Festival 2021 ja um ein paar Monate verlängert. Das hat viel Input und Kraft von Seiten des Teams gebraucht und trotzdem sehr gut geklappt. Ich denke, es war die richtige Entscheidung, dass wir das einmalig gemacht haben. Ein wichtiger emotionaler Abschluss für sowohl uns, die Verantwortlichen, als auch die Filmemacher*innen. Gleichzeitig war es natürlich eine große Herausforderung, weil wir im Juni schon am Programm für 2022 gearbeitet haben. Den diesjährigen Eröffnungsfilm des Panoramas, Viens je t’emmène (Nobody’s Hero) von Alain Guiraudie, habe ich während des Summer Special gesehen. Und wenn wir jetzt immer noch kämpfen und uns permanent auf neue Herausforderungen einstellen müssen, können wir sehr stark auf den Erfahrungen des Vorjahres aufbauen. Das ist sehr hilfreich.

Mit Blick auf das diesjährige Programm fällt auf, dass das Wort „Pandemie“ kein einziges Mal fällt. Habt Ihr direkte Thematisierungen bewusst ausgeschlossen?

Nein. Hätte sich ein Film angeboten und organisch ins Programm eingefügt, wäre er sehr willkommen gewesen. Ich habe gar nicht darüber nachgedacht, dass wir jetzt keinen „Corona-Film“ in der Auswahl haben. Vielleicht ist das eine Art Verdrängungsmodus (lacht). Es gab aber natürlich Einreichungen die wir interessiert gesichtet und diskutiert haben zum Thema.

Sind ein Unwohlsein in und mit der Welt, soziale Ängste, Isolation etc., Themen, die in der Folge der Pandemie zu erwarten wären, trotzdem im Programm spürbar?

Das wurde schon letztes Jahr bis zu einem gewissen Punkt sichtbar. Es gibt Sensibilitäten und Ängste, die unbedingt filmisch artikuliert werden wollen. In diesem Jahr geht es sehr stark um Ausbrüche und das Wechselspiel von Individuum und Gesellschaft, die in Einklang gebracht werden müssen.

Nadine Hwang und Nelly Mousset-Vos in Nelly & Nadine

In der ersten Pressemitteilung stand zu lesen, die Filme seien „Vorboten eines versöhnlichen Kinos“. Was genau hast Du damit gemeint?

Ein versöhnliches, aber gleichzeitig ein schonungsloses Kino, wie es hieß. Denn viele Filme weisen unmissverständlich auf extrem brutale gesellschaftliche Verhältnisse hin. Gleichzeitig vereint viele Arbeiten aber diese versöhnliche Tonalität. Sie zeigen ein Potenzial zur Heilung, auch wenn der Weg dorthin schmerzhaft ist. Etwa Nelly & Nadine, ein Dokumentarfilm von Magnus Gertten aus Schweden. Er erzählt die Geschichte zweier Frauen, die sich im KZ Ravensbrück kennengelernt haben. Über die Enkelin, die Jahrzehnte später diese Geschichte der Großmutter in deren Nachlass entdeckt, rekonstruiert der Film einen Leidensweg, der aber auch eine Station des Sich-Liebenlernens ist. Der Film schafft es, gleichzeitig den Horror des Holocausts und die immense Willenskraft dieser zwei Frauen greifbar zu machen.

Intensive Einblicke

Aus der Vogelperspektive betrachtet entsteht das Gefühl, dass das diesjährige Programm eine extreme geographische Spannbreite hat und sehr differente Winkel der Welt auf die Leinwand bringt. Gleichzeitig dringen die Arbeiten äußerst tief in die Milieus, die sie inszenieren, ein. Täuscht dieser Eindruck?

Nein. Und das ist schön zu hören. Es ist ein sehr breit gefächertes Programm mit vielen intensiven Einblicken in Gesellschaftsstrukturen. Um nur ein Beispiel zu nennen: der kasachische Baqyt (Happiness) von Askar Uzabayev ist ein Film über häusliche Gewalt, die natürlich nicht nur ein kasachisches, sondern ein weltweites Thema ist und leider viel zu wenig Beachtung erfährt.

Laura Myrzakhmetova in Baqyt

Gerade weil häusliche Gewalt in Zeiten der Pandemie so aktuell geworden ist...

Ja. Man liest und hört permanent von brutalen Übergriffen innerhalb von (Ex-)Partnerschaften. Baqyt greift das mit einer überwältigenden Ausdauer auf. Der Film erzählt mit einer sehr großen Ruhe und scheut auch nicht vor expliziter Gewaltdarstellung zurück. Er seziert diese Familienkonstellation, in der der Mann nach außen ein sehr geselliger Typ ist, aber zuhause seine Frau brutal unterdrückt. Gleichzeitig wird die Tochter mit einem Mann, der ebenfalls gewalttätig ist, verheiratet. Sie ist schwanger von ihm und totunglücklich, wird aber in die Ehe gedrängt. Das dicht gewebte – teils internalisierte - gesellschaftliche Netz aus Misogynie wird an dieser Familie deutlich. Und das mit einer dramatischen Wucht, die erschüttert.

Zudem ist es die Geschichte eines Ausbruchs. Der Film beginnt an dem Punkt, an dem sich die Frau fragt: Wie komme ich hier raus? Wie kann ich mich retten? Baqyt basiert auf der Biografie der Produzentin, die in Kasachstan eine bekannte Person ist und mit dem Film versucht, ein gesellschaftliches Bewusstsein für das Thema zu schaffen.

Auch Produkty 24 (Convenience Store) aus Russland baut auf einem wahren Fall auf, der 2016 aufgedeckt wurde und der Justiz immer noch ein Dorn im Auge ist. Er zeigt die Grausamkeit moderner Sklaverei, usbekische Arbeiterinnen, die in einem 24/7-Shop festgehalten und missbraucht werden. Die Polizei schaut wie alle anderen nur zu, alle sind Teil dieses Systems, dass das einfach passieren lässt. Die Arbeit ist unter widrigen Umständen entstanden, aber ein Herzensprojekt des Regisseurs Michael Borodin, der aus Usbekistan kommt und sehr viele dieser Biografien persönlich kennt. Ein Film mit sehr großem Gestaltungswillen und einer starken Ästhetik – gerade in der Inszenierung der Orte. Da gibt es eine starke Überhöhung durch die Lichtsetzung und die Dramaturgie. Das gilt für viele der 2022er-Filme: Sie zeigen eine große Lust an der dramatischen Geste, an inszenatorischen Details, im Schauspiel und den formalen Aspekten. Ein Jahrgang, der einfach großes Kino bietet.

Anne Schäfer und Anne-Kathrin Gummich in Alle reden übers Wetter

Mutterfiguren

Zudem ein Jahrgang, der vom Thema „Familie“ dominiert ist. Auffällig ist vor allem die Flut an Mutterfiguren, die die Filme bevölkert. Die Hauptfigur in Alle reden übers Wetter wartet gleich mit zweien – einer Doktor- und einer biologischen Mutter – auf. Auch The Apartment with Two Women fokussiert eine Mutter-Tochterbeziehung. Welche Qualität besitzen diese Beziehungen?

Es treten tatsächlich sehr viele, sehr verschiedene Mutterfiguren auf, die die Handlung auf unterschiedlichste Art vorantreiben. Clara, die Hauptfigur in Annika Pinskes Alle reden übers Wetter, stammt aus Mecklenburg-Vorpommern und macht jetzt in Berlin ihren Doktor. Sie ist aus ihrer Klasse und dem familiären Bildungsumfeld ausgebrochen. Zum Geburtstag ihrer Mutter kehrt sie mit ihrer eigenen Tochter, die beim Vater lebt, in die Heimat zurück. Dort muss sie sich damit auseinandersetzen, wie weit sie sich von ihrer Familie und ihren Ursprüngen entfernt hat. Der Film hat wahnsinnig starke Dialoge und diese ganz feinen Momente, in denen man entdeckt, dass man nicht mehr die gleiche Sprache spricht. Daher auch der Titel des Films. Er drückt dieses Bedürfnis nach Oberflächlichkeiten aus, während Clara sich danach sehnt, über tiefergehende Dinge zu sprechen und als Mensch verstanden werden. Das Bedürfnis, sich wieder anzunähern, besteht auf beiden Seiten.

Da gibt es durchaus andere Beispiele. The Apartment with Two Women von Kim Se-in zeigt ein äußerst verbittertes Mutter-/Tochterverhältnis. Die Tochter ist schon Ende 20, lebt aber immer noch zuhause, was für Südkorea nicht unüblich ist. Es geht um diesen sehr schmerzhaften Abnabelungsprozess, bei dem die Mutter ihrer Tochter gegenüber gewalttätig wird. Die Tochter versucht aus diesem mütterlichen Gefängnis auszubrechen. Ein tiefer Einblick in den Mikrokosmos einer Zweierkonstellation, die sehr klaustrophobisch in Szene gesetzt wird, in einer engen Wohnung, in die nur wenig Licht fällt. Das Leid der Mutter ist ein gesellschaftliches, ein Leid, das sie selbst ertragen hat und nun auf ihre Tochter projiziert und überträgt. Die zugrundeliegenden sozialen Vorgänge werden an diesen beiden Figuren sichtbar.

Emil von Schönfels und Sarah Nevada Grether in Grand Jeté

Die Inszenierung von ungewöhnlichen Mutterfiguren kulminiert dann in Grand Jeté...

Meiner Meinung nach der radikalste deutsche Film im ganzen Festivalprogramm. Kompromisslos und konsequent in dem, was und wie sie es erzählt. Grand Jeté handelt von Nadja, die ihre Heimat, ihr Milieu verlassen hat, um Ballerina zu werden. Jetzt ist sie Mitte, Ende 30, unterrichtet Tanzklassen, der Körper ist geschunden, man sieht die Verletzungen an den Beinen, die Ödeme am Hals - ein weiterer schonungsloser Blick ohne viel Erklärung oder Psychologisierung. Auch Nadja kehrt zurück zu ihrer Mutter, irgendwo in die deutsche Periphere und steht zum ersten Mal seit langer Zeit wieder ihrem Sohn gegenüber. Sie hat ihn in sehr jungen Jahren bekommen und bei ihrer Mutter gelassen. Jetzt ist er ein junger Mann. Es entsteht eine Faszination dieser beiden Figuren zueinander, eine körperliche Anziehung, die sehr explizit gezeigt wird. Ich war beeindruckt von der formalen Eloquenz und dramaturgischen Konsequenz, mit der Isabelle Stever diesen Film über antinormative familiäre Verhältnisse in Szene setzt. Und sich in keinem Moment dafür entschuldigt.

Die zahlreichen Mutterfiguren verbinden sich mit einem weiteren auffälligen Motiv 2022: den vielen Schwangerschaften und Neugeborenen. Sind diese Kinder „nur“ Kinder oder werden sie innerhalb der Filme auch zu Metaphern möglicher Zukünfte?

Oxana Cherkashina in Klondike

Klondike von Maryna Er Gorbach ist das Paradebeispiel für einen symbolischen Umgang mit dem Thema Mutter-Werden. Die hochschwangere Irka lebt mit ihrem Mann Tolik im ostukrainischen Kriegsgebiet. Eine der Außenwände des Hauses, in dem sie leben, ist eingestürzt. Durch die fehlende Wand schieben sich das Innen und das Außen, das Private und das Politische immer stärker ineinander. In der Totalen sind die Konflikte oft im Hintergrund, also Außen, zu sehen, während im Vordergrund, im Haus, andere Dinge passieren. Zwei Ebenen des Bildes, die ineinanderwirken. Die Geburt ist dann ein starkes Symbol für einen Neubeginn und eine gewisse Resilienz der Mutterfigur.

Vergangenes neu entdecken

Mit Aşk, Mark ve Ölüm (Liebe, D-Mark und Tod) von Cem Kaya und Bettina von Lutz Pehnert habt ihr zwei Musikdokumentationen im Programm. Jenseits der Musik – lässt sich mit diesen beiden Werken auch die Geschichte Berlins neu entdecken?

Ja, denn beide Filme arbeiten sehr stark mit Archivmaterial und zeigen alternative Kulturgeschichten im geteilten Deutschland und im geteilten Berlin. Das wunderbar ins Narrativ eingewebte akribisch recherchierte Material verbindet die beiden Arbeiten und bringt uns an neue Orte. In Bettina gibt es eine wahnsinnig spannende Sequenz, in der die Musikerin in der ehemaligen DDR inhaftiert wird, weil sie gegen das gewaltsame Ende des Prager Frühlings demonstriert hat. Die Audiobänder des damaligen Verhörs sind im Film zu hören, sie geben einen ganz besonderen Einblick in diese Zeit und in die Persönlichkeit Bettina Wegners. Eine politisch Interessierte, die an die DDR glaubt und sie dennoch für bestimmte Dinge kritisiert. Und schließlich in den Westen ausgewiesen wird, was sie vor eine innere Zerreißprobe stellt, weil Ostberlin ihre Heimat ist.

Rüştü Elmas in Aşk, Mark ve Ölüm

Aşk, Mark ve Ölüm macht eine Welt auf, die für viele bisher unentdeckt geblieben ist. Durch das Anwerbeabkommen von 1961 und die Migrationsbewegung der Gastarbeiter*innen ist auch viel (Musik-)Kultur ins Land geströmt. Der Film schreibt eine chronologische Geschichte von den 1960ern bis zum Deutschrap der 00er-Jahre, erzählt von der Arbeiterbewegung, von Sehnsucht, Einsamkeit und Wehmut. Und entdeckt dabei subkulturelle Orte wie den Berliner U-Bahnhof Bülowstraße neu, der jahrelang tagesüber als Bazar und abends als Konzertsaal gedient hat. Ein Einblick in diese Musikszene und gleichzeitig ein Porträt deutsch-türkischer Geschichte.

Bettina Grossman in Dreaming Walls

Einen besonderen Ort entdeckt auch Dreaming Walls von Amélie van Elmbt und Maya Duverdier neu. Inwieweit wird hier die Vergangenheit präsent?

Dreaming Walls zeigt das legendäre Chelsea Hotel, dreht sich aber nicht primär um die Geister der Stars, die dort gelebt haben. Sie sind zwar präsent, stehen aber nicht im Fokus. Denn der nimmt die Menschen, die jetzt noch dort wohnen, in den Blick. Eine Gruppe von Widerständler*innen, die sich nicht haben rauskaufen lassen, als das Gebäude in ein Luxushotel saniert werden sollte. Die Vergangenheit wird in ihren Erinnerungen präsent. An die Menschen, den Spirit, den diese Räume immer noch in sich tragen. Diese Protagonist*innen sind unglaublich sympathische und kreative Menschen für die die Regisseurinnen ein großartiges Gespür beweisen. Der Film entfaltet eine ungeheure kaleidoskopische Qualität, die dem Hotel etwas labyrinthartiges verleiht. Das Archivmaterial aus den 1960er, 70er und 80er-Jahren ist vom heute gedrehten Material oft kaum zu unterscheiden und so entsteht ein Taumel durch die Zeiten. Die Vergangenheit dieser Räume wird spürbar, auch wenn das Gebäude jetzt kernsaniert und in seiner Struktur verändert wird.