2022 | Berlinale Series
Happy Returns
In einem starken Jahr für skandinavische Serien spricht die Leiterin von Berlinale Series, Julia Fidel, über glückliche Rückkehrer*innen, die Neuerfindung bekannter Genres und regionale Trends.
Du nennst 2022 das Jahr der „happy returns“ - viele Regisseur*innen waren bereits mit Filmen bei der Berlinale vertreten und kehren mit Serien zum Festival zurück. Woher kommt dieser Trend?
Wir freuen uns, dass sich hier einer der Ursprungsgedanken einlöst, der zur Entstehung von Berlinale Series führte - die Entwicklung, dass immer mehr Filmregisseur*innen Serien verantworteten und die Grenzen zwischen Film und Serie insgesamt verschwanden. In diesem Jahr eröffnet Iosi, el espía arrepentido (Yosi, the Regretful Spy) das Programm, eine Serie von Daniel Burman der mit El abrazo partido 2004 den Silbernen Bär gewonnen hat und allein dreimal mit Filmen im Panorama vertreten war. In der Serie wird ein Spion in die jüdische Community in Buenos Aires eingeschleust und leistet unwissentlich Vorarbeit für antisemitische Terroranschläge. Jahre später bricht sein Glaube an die “eine” Wahrheit auf, er hinterfragt seine Positionen. Diese Serie ist unglaublich vielschichtig, sie spielt über mehr als drei Jahrzehnte und die Zeit- und Handlungsebenen sind wirklich meisterhaft ineinander verwoben und komponiert. Auch die Informationen, die wir als Zuschauer*innen erhalten, sind präzise portioniert und man spürt in dieser Serie all das Wissen, all die Erfahrung, die Daniel Burman als Filmregisseur hat. Mit Ellas vagt (The Shift) kehrt Lone Scherfig nach Berlin zurück. Sie hat vor drei Jahren mit The Kindness of Strangers die Berlinale eröffnet, 2001 mit Italienisch für Anfänger den Silbernen Bären gewonnen und war 2009 mit An Education im Berlinale Special vertreten. Hier nimmt sie sich eines sehr erprobten Genres an - der Krankenhausserie - und definiert es für sich neu. Die typische Procedural-Struktur interessiert sie nicht, stattdessen legt sie weite Spannungsbögen und horizontale Erzählstränge an und folgt ihren Protagonist*innen unaufgeregt durch ihren Arbeitsalltag. Die Räume, die sie dabei erschließt, sind ausschließlich Innenansichten der Geburtsstation, in der alles passiert, und wir erhalten dadurch auch einen Eindruck für die Endlosigkeit der Schichten, die ständige Überlastung und nicht angemessene Bezahlung, die Menschen dazu zwingt, ihren Beruf aufzugeben, obwohl sie ihn gern machen.
Allgemein kann man sagen, dass es eine interessante formale Entwicklung ist, wie Creators, Autor*innen und Regisseur*innen sich ein Format suchen, dessen Grenzen sie ausloten und dabei innerhalb dieses selbst gesteckten Rahmens ihr Können ganz ausspielen.
Welches Genre wäre das denn bei Philippe Falardeau, dem dritten „Rückkehrer“?
Hm, er ist für mich sein eigenes Genre, die Falardeau’sche Tragikkomödie, die er in seinen Filmen so perfekt beherrscht und hier über mehr Zeit entwickeln kann, was ihm mit Co-Creator und Autorin Florence Longpré wieder außerordentlich gelungen ist. Ich liebe Philippes Film C’est pas moi, je le jure!, der 2009 bei Generation den Gläsernen Bären gewann. Damals standen wir gemeinsam auf der Bühne im Zoo Palast und wenn wir mit Le temps des framboises (Last Summers of the Raspberries) wieder an der gleichen Stelle stehen, schließt sich für mich in gewisser Weise ein Kreis - wobei ich hoffe, dass Florence und er noch viele gemeinsame Serien drehen werden. Die beiden haben ein unbeschreibliches Gespür für Situationskomik und balancieren die emotionalen Tiefen der Serie so souverän.
In Podezření ( Suspicion) folgen wir einer quasi sprachlosen Protagonistin, der der Tod einer Patientin im Krankenhaus, in dem sie arbeitet, vorgeworfen wird und die sich dabei einem perfiden Machtspiel ausgesetzt sieht.
Ja, die Hauptdarstellerin dieser Serie hat eine solche Präsenz, dass es gelingt, nahezu alles, was wir über sie wissen müssen, über ihre Körpersprache und ihr Spiel - die Unbewegtheit ihres Blickes, diese ständige Anspannung und Steifheit ihrer Haltung, die Härte in der Mimik - zu erfahren. Auch das Zusammenspiel zwischen ihr und der Tochter in der Serie hat mich sehr beeindruckt, wie diese nach Anknüpfpunkten sucht und abprallt… das ist wirklich großartig von Showrunner Štěpán Hulík und dem Regisseur Michal Blaško geführt und inszeniert.
Ein ganz anderes Genre ist wiederum The Rising, eine Young-Adult-Serie.
Diese Serie spielt mit so vielen unterschiedlichen Genres aber die Prämisse - eine junge Frau ist tot, gefangen in einer Zwischenwelt und muss herausfinden, wer sie getötet hat - ist Supernatural Thriller, es gibt Horrorelemente und Familiendrama. Visuell hat die Erzählung eine enorme Kraft, die Landschaften sind spektakulär, es wird mit Komplementärfarben gearbeitet, die Hauptdarstellerin Clara Rugaard fährt Motocross und hat einen Look, von dem ich hoffe, dass er vielfach kopiert wird…
Von Jugendlichen springen wir am besten direkt zu den Mittvierzigerinnen aus Schweden. Was ist so lustig an Sexualität ab 40?
Also, es stimmt sicherlich, dass es hilfreich ist, das Älterwerden und die körperlichen Veränderungen und die ebenso veränderte Außenwahrnehmung, mit der man sich als Frau noch einmal ganz besonders auseinandersetzen muss, nicht ganz ernst zu nehmen und öfter mal darüber zu lachen. Und genau diese Haltung nimmt die Comedyserie Lust auch ein. Drei der vier Hauptdarstellerinnen um Sofia Helin haben auch an den Drehbüchern gearbeitet, was der Serie anzumerken ist. Denn wirklich komisch wird es ja erst, wenn Geschichten einen wahren und zumeist auch schmerzhaften, schambehafteten, verletzlichen Kern haben, mit dem dann maximal selbstbewusst umgegangen wird. Und das ist das Schöne an dieser Serie.
Sprechen wir noch über die letzte skandinavische Serie, die erste isländische Produktion im Programm, Svörtu sandar (Black Sands).
Darüber freuen wir uns natürlich besonders, wir beobachten die isländische Serienlandschaft schon eine Weile und freuen uns, dass es mit dieser Whodunnit-Crimegeschichte geklappt hat. Besonders an dieser Geschichte ist natürlich zunächst die extrem fotogene Landschaft, die auch großartig eingefangen wurde, und das Setting in einer dörflichen Community, in der jede jeden kennt und alles eine Geschichte hat. Ach, und die Ausstattung hat mich sehr begeistert hier, allein die Einrichtung des Hauses der exzentrischen Mutter der Protagonistin erzählt so viel darüber wie es sich anfühlt, dort aufzuwachsen.
Wie haben sich im Marktprogramm die „Berlinale Series Market Selects“ in ihrem zweiten Jahr etabliert?
Die „Series Market Selects“sind eine logische Ergänzung zum Festivalprogramm, in der sich viele allgemeine Trends, die wir benennen konnten, nochmal deutlich widerspiegeln:
Wir haben in diesem Jahr sehr viele lateinamerikanische Produktionen gesehen, vor allem aus Brasilien gab es tolle Serien. Hier können wir sehen, dass sich etwas bewegt in der lokalen Produktion, was für uns hochinteressant ist. Auch aus Osteuropa gibt es vielversprechende Produktionen, was sich im offiziellen Programm und bei den „Market Selects“ mit Šutnja (The Silence), Crna svadba (Black Wedding) sowie Identifikatsiya (Identification) zeigt.
Aber vor allem erleben wir ein extrem starkes skandinavisches Jahr. Im Markt läuft die Serie Harmonica, aus meiner Sicht mehr als nur ein Geheimtipp. Hier geht es um eine Band, die ihre besten Zeiten schon eine Weile hinter sich hat und jetzt wieder auf Tour geht, aber nicht mehr in großen Stadien, sondern in kleinen Kneipen und Bars. Die beiden Autor*innen sind auch die Hauptdarsteller*innen und die Intensität, mit der sie diese Figuren verkörpern, ist ganz besonders. Auch bei Fredløs (Outlaw) merkt man, was es für unglaublich tolle Schauspieler*innen im skandinavischen Raum gibt.
Bei den deutschen Serien muss ich noch ZERV hervorheben, mit den wunderbar aufspielenden Fabian Hinrichs, Nadja Uhl und Fritzi Haberlandt. Allein wegen Fritzi Haberlandts Looks sollte man diese Serie nicht verpassen – aber auch wegen des hinreißenden Duos Nadja Uhl und Fabian Hinrichs. Hier geht es um die Nachwendezeit, in der die organisierte Kriminalität weniger Berührungsängste zwischen Ost und West hat als der Rest der Bevölkerung.
Welche Auswirkung hat der Online-Gang des EFM auf die Serien und das Programm?
Wir finden es natürlich sehr schade, dass wir viele Leute aus der Branche jetzt nicht in Berlin begrüßen können, umgekehrt sind wir sehr froh darüber, wieder echte Premieren feiern zu können. Gerade für das Serienprogramm ist das so wichtig, in dieser ungewöhnlichen Form präsentiert und damit auch besonders gewürdigt zu werden. Und ein bisschen Würdigung hat diese Erzählform doch verdient, nachdem sie uns besonders in den letzten zwei Jahren durch viel Zeit zu Hause begleitet hat.