2022 | Forum Expanded
Closer to the Ground
2022 ist das erste Jahr des Forum Expanded ohne die Begründer*innen Stefanie Schulte Strathaus und Anselm Franke, die im Sommer ausgeschieden sind. Ulrich Ziemons und Ala Younis haben die Leitung der Sektion übernommen. Im Interview sprechen sie über ein besonderes Gefühl, das während des Sichtungsprozesses entstanden ist, die Veränderung des Blicks durch die Pandemie und die zombieesken Aspekte “nachhaltiger” Atomenergie.
Wie fühlt sich das erste Jahr ohne Stefanie und Anselm an?
Ulrich Ziemons: Einsam (lächelt). Für mich persönlich ist es interessant, weil ich schon eine ganze Weile beim Forum Expanded bin, aber sich meine Rolle innerhalb der Struktur der Sektion geändert hat. Ich übernehme jetzt mehr Verantwortung, aber die tägliche Arbeit ist eigentlich gleich, weil ich mich um dieselben Prozesse wie in den Jahren zuvor kümmere. Was sich geändert hat, ist die Arbeit am Programm, weil wir ein fast komplett neues Team haben. Die Dynamik innerhalb der Gruppe ist anders, weil neue Leute je andere und neue Interessen und Ansichten mitbringen. Die Art, wie wir unsere Besprechungen während des Auswahlprozesses organisieren, hat sich auch geändert, weil das Komitee über mehrere Kontinente und Zeitzonen verteilt ist. Wir haben uns zumeist online getroffen, was gut funktioniert hat.
Über eine Distanz von mehreren Ländern hinweg zu arbeiten klingt ganz anders als das Thema des Forum Expanded 2022: Closer to the Ground. Steht es in Beziehung zu den gemachten Erfahrungen?
UZ: Es geht tatsächlich um das Nachdenken darüber, wo man sich befindet, wo man verortet ist. Viele der Filme im Programm erzählen von einem konkreten Ort und versuchen, ihn zu ergründen. Sie sind in einer bestimmten Situation verankert und vermessen diese Situation und diese Örtlichkeit sehr detailliert, lassen uns näher hinschauen um andere Dinge zu entdecken als die, welche man sehen könnte, wenn man geradeaus oder in die Ferne schaut. Als wir uns darüber Gedanken gemacht haben, was die Filme verbindet, die wir gesichtet haben, fühlten wir uns zu dieser Idee von „Closer to the Ground“ hingezogen. Sie hat bei uns allen Anklang gefunden, weil wir sehr viel darüber nachgedacht haben, wo wir uns befanden, während wir uns sozusagen an mehreren Orten gleichzeitig trafen. Es gab ein gewisses Bedürfnis, die Schwerkraft zu spüren und mit dem Boden verbunden zu sein.
Was war die größte Herausforderung im letzten, immer noch von Corona dominierten Jahr? Um neue Filme zu finden, muss man normalerweise sehr viel reisen – konntet Ihr viel reisen?
Ala Younis: Wir konnten reisen, aber mit Einschränkungen. Die Recherchearbeit war eine Kombination aus Reisen und dem Zugang zu Werken, den wir entweder über Forum Expanded oder über andere Projekte, in die wir involviert sind, haben. Wir habe viele unserer Kontakte und Berater*innen in den unterschiedlichsten Teilen der Welt mobilisiert. Als wir dabei waren, das Programm zu finalisieren, war das eine komische Situation, weil sich die Bedingungen ständig geändert haben. Manchmal konnten wir uns alle persönlich treffen, bis auf eine Person, die per Zoom zugeschaltet werden musste. Am nächsten Tag musste vielleicht jemand anderes zoomen, je nachdem, welcher Corona-Alarm auf wessen Telefon ausgelöst worden war. Es gab also neben den internationalen Reisebeschränkungen auch Einschränkungen in ein-und-derselben Stadt. Jeden Tag stellte sich aufs Neue die Frage, wer ins Büro darf und wer zuhause bleiben muss.
2022 ist für die Berlinale das zweite Corona-Jahr. Wie hat sich Eure Sichtweise und die der Künstler*innen unter dem Eindruck der Pandemie verändert?
AY: Wir sehen sehr deutlich, wie Corona und die Situation, in der wir uns befinden, die Themen und Bilder überschatten. Die Werke, die jetzt gerade produziert werden, oder die Filme, die wir zurzeit sehen können, sind das Resultat mehrmonatiger oder mehrjähriger Arbeit. In manchen Fällen begannen die Projekte kurz bevor die Pandemie sich ausbreitete, und die Künstler*innen wurden aufgrund der sich ändernden Rahmenbedingungen in ihrer Arbeit gestört. Viele dieser Werke mögen direkte Bezüge zu ihrer Zeit und den Umständen transportieren, es ist aber nicht unbedingt alles, was man über die Pandemiejahre machen könnte, auch schon produziert worden. In den Köpfen von vielen von uns wird diese Zeit noch verarbeitet.
Mit Blick auf das international weitgestreute Kurator*innen-Team: Ändert sich die Perspektive auf bestimmte Werke in Abhängigkeit davon, in welchem Land man sie sich ansieht?
UZ: Während des Auswahlprozesses war ich in Berlin, aber an verschiedenen Orten. Und selbst da hat es einen Unterschied gemacht. Denn es bedeutet einen Unterschied, etwas gemeinsam in einem Kino auf einer angemessen großen Leinwand zu erleben oder allein zuhause zu sitzen und es sich auf einem kleineren Bildschirm anzusehen. In dem Fall muss man extrapolieren: sich den Film in einem Kino vorstellen; sich vorstellen, ihn mit einer Menschenmenge zu sehen, die auf das Gesehene reagiert.
Wie wird er sich zu den anderen von uns ausgewählten Filmen in Beziehung setzen? Schon letztes Jahr konnten wir uns nicht sehr oft treffen, aber dieses Jahr kamen neue Aspekte zu dieser räumlichen Trennung hinzu: Unsere Kollegin Shai Heredia wohnt in Bengaluru in Indien, aufgrund des Zeitunterschieds war es für sie also meist Abend, wenn wir uns zusammengesetzt haben. Und das verändert die Dynamik des Filmsichtens. Man wird vielleicht müde... und jemand anderes sieht sich den Film an, wenn es Morgen ist, nach der ersten Tasse Kaffee. Aber trotzdem denke ich, dass es uns gelungen ist, einen konzentrierten Raum zu schaffen, losgelöst von allem Anderen, so wie in einem Kino, wenn wir die Filme zusammen angesehen haben. Die Rahmenbedingungen waren nicht optimal, also mussten wir uns optimale Rahmenbedingungen vorstellen. Viele der Filme, die wir jetzt zeigen, werden Teil eines Programms sein, sich gegenseitig beeinflussen und in Dialog zueinander treten.
Mit Diva von Nicolas Cilins habt Ihr einen Film im Programm, der die Rahmenbedingungen, die sich durch Corona ergeben haben, zu nutzen scheint. Wie reflektiert er die Situation?
UZ: Diva ist eines der Werke im Programm, die die Art und Weise reflektieren, in der ein Austausch über geografische Grenzen hinweg angesichts der Reisebeschränkungen immer noch möglich oder vorstellbar ist. Für Diva hat der Filmemacher Bildmaterial verwendet, das eine vietnamesische Social-Media-Persönlichkeit von sich postet. Ihr Name ist Diva Cat Thy, sie ist eine Transfrau mit einer riesigen Anhängerschaft in ihrem Heimatland. Sie ist eine Performerin, hat sich während des Corona-Lockdowns aber ihren Lebensunterhalt mit dem Verkauf von Nudeln in einem Straßenimbiss verdient. Nicolas Cilins ist auf diese Videos gestoßen, ohne Vietnamesisch zu sprechen. Sein Partner Dustin Duong ist australisch-vietnamesischer Herkunft und versteht die Sprache bis zu einem gewissen Grad. Dustin fing an, für Nicolas zu übersetzen. Die Begeisterung der beiden für Diva führte dazu, dass dieser Film entstand, der eine Art Fanbrief ist, der die Beziehung zwischen Filmemacher und Übersetzer widerspiegelt, aber auch die Beziehung des Übersetzers zur Heimat seiner Eltern, Vietnam.
Andere Filme im Programm leisten Ähnliches. Zum Beispiel If from Every Tongue It Drips von Sharlene Bamboat, ein Langfilm über ein Paar in Sri Lanka, das sich per Zoom und Skype mit der Filmemacherin unterhält. Wie in Diva geht es um Übersetzungsmethoden – nicht nur zwischen verschiedenen Sprachen, sondern auch zwischen verschiedenen Ländern und gesellschaftlichen Bereichen. Das sind zwei Beispiele, in denen sich die Pandemie direkt auf den Produktionsprozess ausgewirkt hat, aber in den Bildern nicht offen sichtbar wird. In anderen Filmen taucht die Pandemie als Anspielung auf, zum Beispiel durch die Themen Trauer und Verlust, die dieses Jahr ziemlich verbreitet sind.
Vor dem Hintergrund der Pandemie erscheint One Big Bag von Every Ocean Hughes besonders interessant, denn obwohl der Tod in den Nachrichten während der letzten zwei Jahre allgegenwärtig war, beschränkte sich die Sichtbarkeit dieser Vielzahl an Toten jedoch meist auf statistische Angaben...
AZ: One Big Bag ist formal ein sehr geradliniger Film. Er zeigt eine Todes-Doula - eine Person, die sich um die Körper von Toten kümmert und die Leichen auf die Bestattung vorbereitet. Sie präsentiert ihre Tasche voller Werkzeuge, meist ganz alltägliche Gegenstände, und beschreibt, welches Objekt sie wofür genau benutzen wird und wie man eine Leiche für die Totenwache ein bisschen lebendiger aussehen lassen kann. Das ist eine überaus intensive und gleichzeitig sehr sachliche Art, über den Tod zu reden. Die Besonderheit des Films liegt darin, dass er diesen hochemotionalen Prozess, der auf den Tod folgt, wirklich durchläuft.
Ein weiteres Werk, das sich mit diesem Thema befasst, ist Jole Dobe Na (Those Who Do Not Drown) von Naeem Mohaiemen. Es spielt in einem verlassenen, leeren Krankenhaus und ist eine Geschichte über das Sterben – die letzte Szene im Leben einer Frau, die sich weigert, ein Medikament gegen ihre tödliche Krankheit zu nehmen. Ihr Ehemann erinnert sich an die letzten Augenblicke ihres Lebens. Aber die Frau gibt es nur in seiner Vorstellung, denn sie ist bereits gestorben. Und um auf die Frage zurückzukommen, wie die Sichtweise auf bestimmte Werke sich angesichts der Pandemie verändert hat: Jole dobe na wurde kurz vor der Pandemie gedreht. Als Naeem Mohaiemen mit dem Schnitt begann, schlug das Virus zu. Plötzlich lebten viele Menschen allein, weil sie ihre Liebsten verloren hatten oder von ihnen getrennt wurden. Damit nahm der Film eine ganz neue Bedeutung an, obwohl diese weder Teil der anfänglichen Konzeption des Projekts, noch das vom Filmemacher intendierte Ziel war.
Diese Filme verbinden das Gemeinschaftliche mit dem Persönlichen. In Deiner Biografie auf berlinale.de steht, dass Du, Ala, „nach Momenten [suchst], an denen historische und politische Ereignisse mit persönlichen zusammenfallen“. Was fasziniert Dich an diesem Zusammenhang, und ist Devil’s Peak von Simon Liu für Dich so etwas wie der perfekte Film?
AY: Im Programm gibt es viele Filme, die mir sehr nahe sind, aber ja, ganz besonders Devil’s Peak. Gewisse politische Ereignisse überschatten unser gesellschaftliches Leben, es gibt Dinge, die ereignen sich auf höherer Ebene als auf unserer persönlichen. Und sie haben Folgen, wie Armut oder Scheitern oder Freude. Auf der einen Seite sind es gemeinschaftliche Erfahrungen, auf der anderen Seite werden diese in persönliche Geschichten übertragen, die Menschen sehr direkt betreffen. Mich interessiert wirklich, wie diese Umstände der Vielen sich auf die einzelne Person auswirken. Devil’s Peak zeigt massive Momente des Aufruhrs, des Protests quer durch Hongkong. Der Film schenkt den verschiedenen beteiligten Gruppierungen Aufmerksamkeit – den Demonstrant*innen, der Regierung, der Polizei – aber auch dem Filmemacher Simon Liu selbst und seinem Umfeld. Wir sehen Augenblicke gemeinschaftlicher Agitation, eine Straße voller Köpfe. Trotzdem verstehen wir, dass jede Person auf dieser Straße ihre eigene Geschichte hat, dass es einen individuellen Grund dafür gibt, warum sie dort ist und wo sie später sein wird. In diesem Sinne zoomt der Film hinein und heraus, wenn auch nicht auf der Bildebene, also wie wir es in den Bildern sehen.
Abgesehen von der Pandemie berühren drei Werke im Programm ein aktuelles Thema: die Diskussion um Nachhaltigkeit in der EU. Wie treten Atomkraft und ihre Konsequenzen in den Arbeiten in Erscheinung? Das scheint etwas Gespenstisches an sich zu haben, oder?
UZ: Auf jeden Fall. Radioaktivität ist für einen Film ein besonders interessantes Thema – wie alles, was man nicht sehen kann – weil es eine große Herausforderung für ein Medium darstellt, das sich mit visueller Repräsentation befasst. Die Künstler*innen im Programm gehen dieses Problem, eine unsichtbare Bedrohung sichtbar zu machen, auf unterschiedliche Weise an.
O dente do dragão (Dragon Tooth) von Rafael Castanheira Parrode betrachtet einen Vorfall, der sich Ende der 1980er Jahre in der Heimatstadt des Filmemachers, in Goiânia, Brasilien, ereignete. Ein Gerät zur Strahlenbehandlung wurde aus einem stillgelegten Krankenhaus entwendet. Altmetallhändler nahmen es auseinander und fanden die radioaktive Substanz im verschlossenen Inneren. Sie wussten nicht, was das war, waren aber fasziniert davon: Es strahlte einen blauen Schimmer aus. Sie fassten es mit bloßen Händen an, reichten es herum. Die Radioaktivität begann sich langsam in der Stadt auszubreiten, kontaminierte eine Menge Menschen und führte zu einer der größten zivilen nuklearen Katastrophen in der Geschichte. Der Film verwendet eine Menge vorgefundenes Bildmaterial, symbolische Darstellungen einer Bedrohung, wie zum Beispiel Monster, Drachen, Godzilla. Er schafft eine Atmosphäre, bzw. ein Gespür dafür, wie es ist, sich in einem solchen Katastrophenzustand zu befinden.
Sonne Unter Tage von Alex Gerbaulet und Mareike Bernien zeigt einen Teil deutscher Nukleargeschichte, nämlich die SAG Wismut, einen russischen Betrieb, der in Sachsen, in der damaligen DDR, Uran abbaute und damit das Atomwaffen- und Energieprogramm der UdSSR versorgte. Der Film begibt sich auf die Suche nach Spuren dieser Geschichte in der Region, in der bis zum heutigen Tag Radioaktivität nachweisbar ist.
Sonne Unter Tage verwendet auch vorgefundenes Bildmaterial, Archivmaterial, und löst damit den Diskurs um dieses Material aus. Wie hat es die Region und die politischen Verhältnisse geprägt? Wie wurde es auf beiden Seiten der innerdeutschen Grenze wahrgenommen?
UZ: Sonne unter Tage ist ein Essayfilm über den sichtbaren Effekt dieser unsichtbaren Substanz. Um Objekte, die im Dunkeln leuchten, hat sich beispielsweise eine ganze Industrie entwickelte.
Surface Rites von Parastoo Anoushahpour, Faraz Anoushahpour und Ryan Ferko befasst sich noch einmal auf eine ganz andere Art und Weise mit der Nutzung von Uran. Die Atomkraft steht nicht im Mittelpunkt des Films. Es geht um einen Vorort von Toronto in Kanada, der ebenfalls von der Atomkraft- und Atomwaffenindustrie geprägt wurde. Der Uranabbau hat das Gebiet, das an das Land der Serpent River First Nation grenzt, kontaminiert. Dadurch wirkt es auf gewisse Weise gespenstisch. Ortsansässige Jugendliche haben dort einen Zombiefilm gedreht, als Visualisierung der Vorstellung eines unvergänglichen Etwas, das diesen Ort heimsucht. Das kann stellvertretend für Uran stehen, der Film setzt sich aber auch mit Migration auseinander, mit Fragen nach Landrechten, Siedler*innenkolonialismus und den Rechten der indigenen Bevölkerung. Er betrachtet all diese politischen Machtverhältnisse, die sich vor Ort manifestieren. Und er hat ein Gespür für die Seltsamkeit dieses Ortes – die Vorstadt als Brutstätte für Leute mit sehr merkwürdigen Beschäftigungen.