2009 | Kulinarisches Kino

Der Geschmack der Wahrheit

Ein frisch verstorbener Feinschmecker hat die Wahl zwischen Himmel und Hölle. Da er zum Sündigen neigt, entscheidet er sich für die Hölle und will den Speisesaal sehen. Dort türmt sich ein Bankett mit den leckersten Speisen aus aller Welt. Ihm läuft das Wasser im Munde zusammen. Aber die Gäste sind dürr und frustriert, denn sie sind mit Gabeln ausgerüstet, die länger sind als ihre Arme. Sie haben keine Chance, an die Speisen zu kommen.

Der hungrige Feinschmecker bittet den Speisesaal im Himmel sehen zu dürfen, was ihm gewährt wird. Hinter der großen Tür eröffnet sich ihm ein ähnliches Bild: ein riesiges Buffet mit den feinsten Speisen. Hier sind die Menschen jedoch wohlgenährt, lachen und plaudern gesellig. Auch sie haben immens lange Gabeln, doch sie füttern sich gegenseitig.

San Francisco, Slow Food Nation 2008

Slow Food Nation Picknick 2008 in San Francisco

Diese Geschichte erzählt der Slow Food-Gründer Carlo Petrini gerne, um das menschliche Glück zu beschreiben. Essen ist ein Akt der Geselligkeit. Wir sind voneinander abhängig und leben in Netzwerken, nicht nur der Kommunikation, sondern auch der Nahrungsketten. Diese Netzwerke sind heute zweifellos gestört, denn jeder sechste Mensch auf der Erde hungert und mindestens ebenso viele sind übergewichtig. Das ist eine der bitteren Wahrheiten im globalen Speisesaal.

Die Uno beschloss im Jahr 2000 als eines der Milleniumsziele die Zahl der Hungernden bis 2015 zu halbieren. Zur Halbzeit der Aktion meldet die Deutsche Welthungerhilfe am 14. Oktober 2008, dass die Zahl der Hungernden weiter steigt, und fordert 10 Milliarden Euro für die Landwirtschaft in armen Ländern. Das ist bescheiden im Vergleich zu den hunderten von Milliarden, die in wenigen Wochen für die Banken zur Verfügung gestellt wurden. Doch wie würden diese Mittel investiert werden?

Die Agrarindustrie fordert zur Behebung der Nahrungskrise eine neue „grüne Revolution“, intensivere Landwirtschaft, mit neu gezüchteten Pflanzen und Tieren, industrielle Produktionsmethoden und ein globales Handelsnetz.

Das ist das Gegenteil der Maßnahmen, die am 14. April 2008 im Weltagrarbericht der UNO empfohlen wurden. Der entscheidende Faktor zur Bekämpfung des Hungers sei nicht die Steigerung der Produktivität um jeden Preis, sondern die Verfügbarkeit von Lebensmitteln und ihrer Produktionsmittel vor Ort. Man solle in nachhaltige, kleinbäuerliche Strukturen investieren, lokale und regionale Strukturen stärken, und den Einsatz von fossilen Brennstoffen und chemischen Düngern verringern.

Carlo Petrini, Dieter Kosslick

Slow Food-Gründer Carlo Petrini mit Festivaldirektor Dieter Kosslick

Diese offizielle Empfehlung der UNO entspricht im Kern der Slow Food-Philosophie, die die Rückkehr zu lokalen und saisonalen Produkten unterstützt. Es geht den Slow Food-Erzeugern und -Essern nicht nur um „Bio“, sondern auch um die Herkunft und Wege der Nahrung, und um die Bauern und Arbeiter, die sie erzeugen. Wer möchte Tomaten essen, für die der Pflücker 2 Cent pro Kilo erhält? Selbst wenn sie „Bio“ sind.

Das Verhältnis der Menschen zur Nahrung ändert sich rasant, beobachten nicht nur die Food Journalisten. Es geht nicht mehr nur um Geschmack und Gesundheit, sondern um die Lebensgrundlagen Land, Wasser, Luft und Gene, die früher Gemeingut waren. Heute sind sie Spekulationsobjekte auf den internationalen Märkten geworden.

Ob es beim nächsten G8 Gipfel in Sardinien im Juli 2009 und bei der Kyoto 2 Konferenz im Dezember 2009 in Kopenhagen zu einem Wechsel der Politik kommen wird, ist offen. Über die Politik kann in Wahlen abgestimmt werden.

Ergänzend zur Abstimmung an der Wahlurne über die Food Politik kann man auch ein Votum mit der Gabel abgeben. Drei mal täglich können die, die nicht hungern, entscheiden, was sie essen. Denn was und wie gegessen wird, hat Konsequenzen für die Menschen und die biologische und kulturelle Vielfalt.

Wer abstimmen will, braucht Informationen. Das Kulinarische Kino 2009 zeigt eine Auswahl aktueller Dokumentarfilme über Nahrung, Gesundheit und Umwelt. Der Geschmack der Wahrheit ist manchmal bitter. Doch wer die Augen nicht verschließt, sondern für seine Mitmenschen sorgt, landet vielleicht doch noch am himmlischen Bankett und wird satt wie in der Fabel mit den langen Gabeln.